Der deutsche Biermarkt ist seit Jahrzehnten in Bewegung, die Konsumgewohnheiten haben sich verändert. Am Beispiel von alkoholfreiem Bier wird dies besonders deutlich. Früher ohne Marktbedeutung, hat die Sorte heute einen Marktanteil von sieben Prozent. Bundesweit gibt es mehr als 700 verschiedene Marken und laut Deutschem Brauer-Bund wird schon bald jedes zehnte in Deutschland gebraute Bier alkoholfrei sein.
Angefangen hatte alles mit Clausthaler alkoholfrei, dessen enormer Erfolg schließlich auch andere Brauer dazu brachte, alkoholfreie Biere zu brauen. Getränke News traf den Erfinder von Clausthaler und ehemaligen Binding-Vorstand, Dr. Christian Zürcher, um mit ihm über die Entwicklung des alkoholfreien Bieres zu sprechen. Außerdem mit dabei: Rüdiger Ruoss, der über 50 Jahre lang als Inhaber einer Werbeagentur eng mit der Bierbranche verbunden war, sowie „Bierpapst“ Conrad Seidl, der seit 40 Jahren als Journalist den Biermarkt weltweit verfolgt. Die junge Biergeneration vertrat Sascha Euler, Gastronom und Inhaber der Frankfurter Craftbier-Kneipe Naiv, wo das Gespräch stattfand. Gemeinsam blickten sie auf die letzten Jahrzehnte des deutschen Biermarkts zurück.
Getränke News: Herr Ruoss, vor 60 Jahre sind Sie als „Assistent der absatzwirtschaftlichen Abteilung“ bei der Henninger Brauerei ins Biergeschäft eingestiegen. Als Inhaber einer Werbeagentur und erfolgreicher Veranstalter waren Sie über 50 Jahre lang mit der Getränkebranche eng verbunden. Was waren rückblickend die größten Veränderungen im Brauerei-Geschäft?
Rüdiger Ruoss: Als ich ins Biergeschäft kam, dominierten in Deutschland die großen Braukonzerne wie die Dortmunder Union oder Binding. Die Familien- und Privatbrauereien wie Bitburger, Krombacher, Veltins oder Warsteiner waren vom Absatz her eher unbedeutend. Es gab damals große Marken wie Wicküler, die heute keine Marktbedeutung mehr haben. Stern aus dem Ruhrgebiet und Licher wollten nationale Marken werden. Diese Versuche sind gescheitert. Von 1967 bis 1982 konnten die Familienbrauereien ihr Absatzvolumen fast verdoppeln und in den letzten 40 Jahren sind sie dann weiter enorm gewachsen. Heute dominieren die Privatbrauereien den deutschen Markt.
Getränke News: Den Begriff Privatbrauereien gab es damals nicht.
Ruoss: Den Begriff führte zuerst die Brauerei Stauder ein. Roland Berger hatte damals die Brauerei beraten. Auf dessen Empfehlung nannte sich Stauder dann Privatbrauerei. Dieser Begriff wurde Synonym für die Familienbrauereien.
Getränke News: Und Henninger war die Nobelmarke in Frankfurt …
Ruoss: Vom Image her lag Henninger vor Binding. Als damals die König Brauerei anfing, eine Anzeigenkampagne in der FAZ und anderen Tageszeitungen im Rhein-Main-Gebiet zu starten, da forderte Henninger, die Werbung sofort einzustellen, andernfalls werde man damit beginnen, Henninger in Duisburg zu vertreiben. So ging es damals zu in der Braubranche.
Getränke News: Welche Bedeutung hatte in den 60ern alkoholfreies Bier?
Ruoss: Alkoholfreies Bier war damals eine absolute Nische. Ende der 1960er Jahre kam ein alkoholfreies Bier aus der Schweiz unter dem Namen Birell bei uns auf den Markt. Das schmeckte jedoch so abscheulich, dass es nie eine Chance hatte. Eine bessere Alternative gab es von der Becker Brauerei aus dem Saarland.
Getränke News: Wie war die Akzeptanz innerhalb der Braubranche?
Ruoss: Alkoholfreies Bier hatte überhaupt keine Akzeptanz. Das wollte keiner anfassen. 1970 hatte ich mit einer Gruppe von Brauereiinhabern eine Blind-Verkostung gemacht mit Henninger-Export und dem alkoholfreien Bier der Becker Brauerei aus St. Ingbert. Nach der Verkostung habe ich den Brauereiinhabern gesagt, was sie gerade verkostet hatten. Die Reaktion: Sie waren beleidigt, weil etwa der Hälfte das alkoholfreie Becker Bier besser geschmeckt hatte als Henninger. Danach wollten sie sich allerdings nicht mehr zu ihrer Entscheidung bekennen, weil sie in ihrer Ehre gekränkt waren.
Getränke News: Der Grund, warum ich nach alkoholfreiem Bier frage, ist, dass heute mit Dr. Christian Zürcher der Erfinder von Clausthaler in unserer Runde sitzt. Herr Dr. Zürcher, Sie waren von 1987 bis Ende 1999 Vorstand Technik in der Binding Brauerei AG. Zuvor waren Sie ab 1973 Leiter der Qualitätssicherung und Technologie bei Binding und haben gemeinsam mit Ihrem Team Clausthaler Alkoholfrei entwickelt. In einer Zeit also, in der alkoholfreies Bier kein Mensch wollte …
Dr. Christian Zürcher: Wir haben bei Binding 1974/75 eine Marktuntersuchung durchgeführt, was es an alkoholfreien Bieren gab und wie der Fachmann und der Biertrinker diese Biere beurteilt. Lediglich Birell hatte damals mengenmäßig überhaupt eine Bedeutung. Aber das Bier war wirklich kaum genießbar. Der Binding-Vorstand hat uns Technikern den Auftrag gegeben, ein besseres – also trinkbares – alkoholfreies Bier zu entwickeln.
Getränke News: Eine echte Herausforderung also …
Zürcher: Zumal wir uns einige Prämissen gesetzt hatten. Wir wollten auf gar keinen Fall ein Vollbier brauen und es anschließend entalkoholisieren. Ein Vollbier zu entalkoholisieren ist nämlich betriebswirtschaftlicher Unsinn. Wir waren deshalb auf der Suche nach einer technologischen Variante, nicht nach einer technischen, wie der Entalkoholisierung.
Getränke News: Wieso betriebswirtschaftlicher Unsinn?
Zürcher: Es wird mit Einsatz vom Malz Alkohol produziert, der anschließend wieder entfernt wird. Den kann man zwar vermarkten oder verwerten, in der Regel sind die Erträge bei der Vermarktung aber sehr mager.
Getränke News: Viele Brauer haben sich zu einer Entalkoholisierung ihres Vollbieres entschieden.Alternativ wird – wie bei Clausthaler – ein Schankbier gebraut, also es entsteht beim Brauprozess erst gar kein Alkohol, den man anschließend wieder entfernen muss. Wie viel Rohstoff wird dadurch eingespart?
Zürcher: Wir haben derzeit einen Markt von alkoholfreien Bieren von etwa 7 Millionen Hektolitern. Davon sind mindestens zwei Drittel entalkoholisiertes Bier. Der Rohstoffeinsatz beim entalkoholisiertem Bier ist etwa um 5,5 bis 6 Kilogramm Malz pro Hektoliter höher als bei dem Schankbier-Verfahren. Hochgerechnet auf die 4 Millionen Hektoliter entalkoholisiertes Vollbier benötigen wir hierfür 23.500 Tonnen Malz mehr als beim Schankbier-Verfahren. Die 23.500 Tonnen entsprechen ungefähr 28.000 Tonnen Gerste.
Getränke News: Welche Anbaufläche wird hierfür benötigt?
Zürcher: Auf einem Feld von einem Hektar kann man ungefähr 5,5 Tonnen Gerste ernten. Wenn alle Brauer ihr alkoholfreies Bier nach dem Schankbier-Verfahren brauen würden, hätte man so viel Anbaufläche frei, die, wenn man sie mit Fotovoltaik-Elementen belegen würde, ausreichte, um 13 bis 14 Prozent des derzeit in Deutschland benötigten elektrischen Stroms zu erzeugen.
Getränke News: Und aus diesen 23.500 Tonnen Malz wird Alkohol produziert, der anschließend wieder entsorgt wird?
Zürcher: Ja. Die Tonne Malz kostet aktuell etwa 600 Euro. Jährlich werden also rund 14 Millionen Euro nur dazu verwendet, um Alkohol zu erzeugen, den ich hinterher wieder dem Bier entziehe. Beim Schankbier-Verfahren spare ich dieses Geld.
Getränke News: Zurück zur Entwicklung von Clausthaler. Binding hat sich als erste Brauerei auf ein Schankbier festgelegt, ein Bier also, das mit wenig Malz eingebraut wird und damit am Ende wenig Alkohol enthält. Aber Schankbier ist kein alkoholfreies Bier.
Zürcher: Unsere zweite Aufgabe bestand darin, ein Bier mit sehr niedrigem Endvergärungsgrad zu brauen, also im Sudhaus eine Würze zu kochen, die möglichst wenig vergärbaren Malzzucker enthält. Entsprechend mussten die Prozesse verändert werden. Wir haben aus den Trebern des Vorsuds unvergärbaren Extrakt gewonnen. Das haben wir perfektioniert. Wir hatten am Ende ein alkoholfreies Bier gebraut, das von Anfang an eben ein alkoholfreies Bier war und dem kein Alkohol nachträglich entzogen werden musste.
Getränke News: Hat es denn am Ende auch besser geschmeckt als Birell?
Zürcher: Geschmacklich kam das Bier gut an. Es wurde anfangs unter dem Namen Felsenkrone vermarktet und in einer Binding-Tochterbrauerei in Mainz gebraut. Nachdem wir einen Jahresausstoß von 5.000 Hektolitern erreicht hatten, waren die Kapazitäten in Mainz zu klein und wir brauten Felsenkrone in Kassel. Der Jahresausstoß stieg 1982 auf 70.000 Hektoliter und auch die Braustätte in Kassel wurde zu klein. Ab 1982 brauten wir in Frankfurt bei Binding. Seit wir unser alkoholfreies Bier auf dem Markt hatten, ging die Absatzentwicklung steil nach oben.
Getränke News: Das Bier hieß aber immer noch nicht Clausthaler.
Zürcher: Als wir anfingen, das Bier in Frankfurt zu brauen, hatten wir den Mut für einen neuen Namen. Binding hatte damals die Brauerei in Clausthal-Zellerfeld erworben. Aus dem Markenportfolio dieser Brauerei kam der Name Clausthaler. Da aber Clausthaler eine Herkunftsbezeichnung ist, wurden wir von Mitbewerbern angefeindet. Also wurde aus Clausthaler nun „Marke Clausthaler“.
Getränke News: Der Ausstoß wuchs weiter bis auf beinahe 1,5 Millionen Hektoliter.
Zürcher: 1987 haben wir in Frankfurt bereits 500.000 Hektoliter Clausthaler gebraut. Drei Jahre später, 1990, haben wir die Schwelle von einer Million überschritten. Vier Jahre später erzielten wir knapp 1,5 Millionen Hektoliter. Die 1,5 Millionen wurden jedoch nie ganz erreicht, es fehlten 5.000 Hektoliter. Das Wachstum von Clausthaler wurde gebremst, weil auch andere Brauereien jetzt alkoholfreies Bier auf den Markt brachten.
Getränke News: Mit Conrad Seidl sitzt der „Bierpapst“ in unserer Runde. Herr Seidl, Sie verfolgen als Journalist seit 40 Jahren den Biermarkt weltweit, haben zahlreiche Bücher über Bier publiziert und sind weltweit ein anerkannter Fachmann und eine echte Koryphäe in Sachen Bier. Wie sehen Sie die Entwicklung von alkoholfreiem Bier?
Conrad Seidl: Dr. Zürcher hat sein Licht etwas unter den Scheffel gestellt: Anfang der 90er war Clausthaler die bekannteste Biermarke Deutschlands. Der Grund dafür war, dass mit einem unglaublichen Werbedruck und einer sehr guten Werbung ein Markt geschaffen wurde. Clausthaler war damals bekannter als Warsteiner.
Zu Ihrer Frage: Alkoholfreies Bier ist unbestritten ein Riesenerfolg, es gibt diesen Markt. Ich verstehe aber nicht, warum Leute dieses Bier trinken.
Zürcher: Werbedruck aufzubauen kostet viel Geld. Wie ich erläutert habe, brauchten wir zum Brauen von Clausthaler viel weniger Malz als zum Brauen von Vollbier. Diese Einsparungen haben wir aber nicht an den Markt weitergegeben. Außerdem mussten wir auf das alkoholfreie Bier keine Biersteuer zahlen. Wir hatten damals einen Preisvorteil gegenüber Vollbier von 13 bis 15 D-Markt pro Hektoliter. Mit diesem Geld konnte man gut eine Marke aufbauen und Werbedruck erzeugen. Der Erfolg spülte uns richtig viel Geld in die Kassen.
Seidl: Was mich besonders fasziniert hat, ist, dass Clausthaler zu einer Zeit, zu der andere noch nicht an alkoholfreies Bier geglaubt haben, bereits mit Variationen wie Extraherb oder Zwickl auf den Markt kam. Das Clausthaler Zwickl war das erste deutsche Markenbier, das unter dem Einfluss der amerikanischen Craftbierszene entstanden ist.
Getränke News: Inwieweit?
Seidl: In den 1950er Jahren wanderte der österreichische Pflanzenzüchter Alfred „Al“ Haunold in die USA aus. Er züchtete dort eine neue Hopfensorte, die 1972 zugelassen wurde. Wir kennen sie heute alle unter dem Namen „Cascade“. Dieser Hopfen brachte bei entsprechendem Einsatz im Brauprozess die geschmacklichen Differenzierungsmöglichkeiten, wodurch die Craftbiere entstanden sind. Clausthaler Zwickl wurde auch mit Cascade Hopfen gebraut.
Getränke News: Damit schlagen Sie wunderbar den Bogen zu unserem dritten Themenblock „Craftbier“. Auch hier hatte man analog zum alkoholfreien Bier die Hoffnung, dass sich daraus in Deutschland mehr entwickelt. Wir sitzen hier in der Craftbier-Kneipe Frankfurts, im „Naiv“, das Sascha Euler zusammen mit seinem Geschäftspartner vor zehn Jahren gegründet hat. Herr Euler, Ihr Konzept funktioniert?
Sascha Euler: Es funktioniert, wir machen aber auch viel dafür. So ein Craftbier-Konzept erfolgreich zu betreiben, ist nicht einfach und erfordert Freude an den Bieren. Man muss bereit sein, den einen oder anderen Extraweg zu gehen. Frankfurt mit seinem internationalen Publikum spielt unserem Konzept in die Karten. Auf dem Land ist eben keiner bereit, für ein Glas Bier sechs oder sogar acht Euro zu zahlen.
Getränke News: Wie viele Biere haben Sie aktuell im Ausschank?
Euler: Zu Beginn hatten wir 17 Biere im Ausschank, heute sind es 150. Die Zahl ist aber nicht entscheidend, entscheidend ist, dass wir diese 150 verschiedenen Biere auch verkaufen. Wir schenken hier mehr als 1.200 Hektoliter Craftbier pro Jahr aus und veranstalten außerdem ein Craftbier-Festival in Frankfurt.
Getränke News: In den letzten zehn Jahren hat sich hierzulande einiges in der Craftbierszene getan, es ist aber auch vieles wieder gescheitert. Ist der Hype also vorbei?
Euler: Craftbier ist unter dem Radar geblieben, weil es nicht die Möglichkeit hatte, sich wie Wein in der Gastronomie zu etablieren. Es hat sich nicht durchsetzen können.
Seidl: In traditionellen Bierländern wie Deutschland oder Österreich funktionieren die Craftbiere nicht so gut wie anderswo. Nehmen wir als Beispiel Italien: Dort ist man bereit, für Bier mehr zu zahlen, weil die Italiener Bier immer mit Wein vergleichen.
Für mich aktuell der spannendste Biermarkt ist der tschechische. Dort funktioniert auch Craftbier in einem Ausmaß, das wir uns nicht vorstellen können. In Prag gibt es ein Craftbierlokal neben dem anderen. Aber nicht für die Touristen, sondern für die Tschechen.
Zürcher: Die Craftbier-Entwicklung wurde aber auch ein wenig durch unser Reinheitsgebot begrenzt. Außerdem haben wir hierzulande bereits eine Fülle verschiedener Biersorten, die alle geschmacklich unterschiedlich sind. Wir haben bereits eine große Vielfalt. Noch eine zusätzliche Kategorie zu etablieren, ist sehr schwer.
Getränke News: Herr Ruoss, Sie hatten bereits 1993 eine Studienreise mit deutschen Brauern in die USA organisiert, um sich die dortige Craftbier-Entwicklung anzuschauen. Wie waren damals die Reaktionen?
Ruoss: Als wir 59 Teilnehmer von der Reise zurückkamen, haben die meisten deutschen Brauer gesagt, das wird nie was, mit dem Craftbier in den USA.
Seidl: Hätten einige der Mittelstandsbrauer, die damals dabei waren, das Thema aufgegriffen, dann ginge es den hochpreisigen Bierspezialitäten im deutschen Markt heute besser. Stattdessen haben viele gesagt: Die Amerikaner können kein Bier brauen, die wissen ja noch nicht einmal, wie man ein Helles macht. Diejenigen, die das damals gesagt haben, sind heute nicht mehr im Markt.
Getränke News: Zurück zum „normalen“ Biermarkt. Wo geht die Reise hin, wohin wird sich der Markt entwickeln?
Ruoss: Ich glaube, das Bier mengenmäßig seinen Höhepunkt lange überschritten hat. Die Bierabsätze werden weiter sinken. Die jungen Leute haben heute viel mehr Getränkealternativen als Bier und Wein.
Seidl: Der Biermarkt ist mengenmäßig rückläufig. Das hängt auch mit der demografischen Entwicklung zusammen. Und mit den Traditionen. Leute, die nicht in die Kirche gehen, gehen anschließend auch nicht zum Kirchenwirt. Wir haben heute außerdem eine große Gruppe von Zuwanderern, die keinen Alkohol trinken. Wir haben Leute, die vegan und alkoholfrei leben wollen. Das heißt aber nicht, dass starke Marken nicht mehr funktionieren werden. Auch lokale Marken und Spezialitäten werden weiterhin ihre Berechtigung haben, aber eben in Nischen.
Zürcher: Alkoholfreies Bier wird weiter wachsen. Hier rechne ich mit jährlich 5 bis 7 Prozent Zuwachs.