Das Ende Juni vom Bundesumweltministerium vorgestellte überarbeitete Verpackungsgesetz (wir berichteten) stößt in der Getränkebranche umfangreich auf Kritik. Und das nicht nur bei den Discountern, die ab 2025 Mehrweggetränke anbieten und jegliches Mehrwegleergut annehmen müssten, sondern auch seitens der Brauer, des Getränkefachgroßhandels und anderer Player, die sich seit vielen Jahren aus eigenem Interesse nachdrücklich für Mehrweg einsetzen.
Die Kritik ist offenbar längst auch im politischen Berlin angekommen; in der Branche kursieren sogar glaubhafte Gerüchte, das Vorhaben sei inzwischen durch Einspruch des Justizministeriums gestoppt worden und liege damit vorläufig auf Eis. Möglicherweise wolle die FDP das Thema in den Koalitionsausschuss bringen, wird kolportiert. Der Fall dürfte sich also noch mindestens bis nach der Sommerpause hinziehen. Indessen gehen die Diskussion in der Branche weiter.
Offiziell meldete sich der Deutsche Brauer-Bund als Erster zu Wort. Wie dessen Hauptgeschäftsführer Holger Eichele in einem öffentlichen Statement mitteilte, rechnet der Verband mit „massiven Verwerfungen“ für die mittelständisch geprägte Getränkewirtschaft, „wenn künftig die großen Lebensmittel-Discounter mit ihren bundesweit 15.000 Filialen in den Mehrwegkreislauf einsteigen und in der Folge versuchen werden, die Spielregeln zu bestimmen“. Politisch sei zwar die Ausweitung ein richtiges Ziel, praktisch sei das Mehrwegsystem aber schon jetzt „logistisch an seinen Grenzen angelangt“. Es fehlten unter anderem Herstellungskapazitäten für Flaschen, Lagerflächen, Lkws und Pfandautomaten. Nicht zu vergessen Personal, vor allem Fahrer.
Markt würde sich grundlegend verändern
Der Entwurf für die Novelle sei „unausgegoren“ und lasse die Folgen für den Markt völlig außer Acht, zeigt sich auch Dirk Reinsberg, geschäftsführender Vorstand des GFGH-Bundesverbands, äußerst skeptisch. Vermutlich würden sich die jahrzehntelang bestehenden Strukturen längerfristig grundlegend verändern, glaubt er. Was das konkret bedeute, sei reine Spekulation. Alles hänge davon ab, wie zwei Marktteilnehmer – Aldi und Lidl – die neuen Pflichten umsetzen. Dabei könnte jeder einzelne Schritt zu völlig unterschiedlichen Konsequenzen führen, was erhebliche Folgen für das seit vielen Jahrzehnten existierende erfolgreiche Mehrwegsystem hätte.
Was wäre zum Beispiel, wenn Lidl für seine Mineralwasser-Eigenmarke keine Poolflaschen einsetzen würde, sondern ein eigenes Mehrweggebinde? Welche Folgen hätte es für das gesamte System, wenn der Discounter dafür einen höheren Pfandsatz erheben würde? Und noch ein Gedanke treibt Reinsberg um: Mehrwegflaschen müssen nicht zwingend in Kisten verkauft werden. Was würde es also für die Logistik bedeuten, wenn Mineralwasser in Schrumpfpacks angeboten würde?
Ein Dreh- und Angelpunkt im künftigen Geschehen dürfte der hohe Platzbedarf für Mehrweg-Verkaufsflächen und Leergutläger sein. Branchenkenner gehen daher davon aus, dass die großen Discounter, falls das Gesetz wie geplant in Kraft tritt, nur die nötigsten Artikel in ihr Angebot nehmen würden – im Extremfall also jeweils ein Mehrwegprodukt in jedem Getränkesegment. Schon dann könnten allerdings Effekte eintreten, die das Umweltministerium sicherlich nicht bezweckt: Kunden von Aldi und Lidl würden möglicherweise aus Bequemlichkeit ihre Getränkekäufe vom LEH oder Getränkefachhandel ganz in den Discount verlegen.
Werden Niedrigpreise zementiert?
Marken, die dort nicht gelistet sind – vor allem von kleineren, regionalen Herstellern – hätten das Nachsehen. Hinzu kommt die Angst um die Preisstrukturen: Würden Aldi und Lidl auch bei Mehrweg ihre bekannte Niedrigpreisstrategie fahren, könnte das auch die Erträge am Gesamtmarkt drücken. Rund um das Thema „Preis“ stört sich Günther Guder, geschäftsführender Vorstand von Pro Mehrweg, an einer Formulierung ganz besonders: Die Angebotspflicht schreibe vor, die Mehrwegalternative „nicht zu schlechteren Bedingungen“ anzubieten als Einweg. Ihm stellt sich daher die Frage: „Soll damit der seit 2003 bei Discountern existierende Dauerdumpingpreis für Mineralwasser auch für Mehrweg an diesem POS verbindlich festgeschrieben werden?“
Weitere Verwerfungen dürften aus der Rücknahmepflicht resultieren: Wenn Aldi und Lidl jegliches Leergut annehmen müssen – wie gelangen die Flaschen und Kästen dann wieder zu ihrem Eigentümer zurück? In einer Übergangszeit würden vermutlich Logistikdienstleister oder der Getränkefachgroßhandel beauftragt werden, glaubt Dirk Reinsberg von GFGH-Bundesverband. Längerfristig würden die Discounter aber voraussichtlich die Abwicklung in die eigenen Hände nehmen.
Das Leergut-Handling treibt auch Günther Guder von Pro Mehrweg um. Die Discounter müssten plötzlich Leergut von Mehrweganbietern zurücknehmen, zu denen keinerlei Geschäftsbeziehungen bestehen. Wer würde dann die Logistikkosten tragen? Und was wäre, wenn Leergut gehortet würde, gerade in Zeiten von Engpässen, fragt er und schlussfolgert, dass es „noch erheblichen Diskussions- und Korrekturbedarf“ gibt – bei aller Freude darüber, dass es in Sachen Mehrwegförderung und Abfallvermeidung endlich weitergehen soll in Deutschland, wie Guder ausdrücklich betont.
Straffer Zeitplan völlig unrealistisch
Antworten auf all die aufgeworfenen Fragen geben die Discounter erwartungsgemäß nicht, einiges an Kritik teilen sie aber mit der Mehrwegbranche. So weist Joachim Wehner, Sprecher von Aldi Nord, den angestrebten Zeitplan – Umsetzung der Mehrwegverpflichtungen ab 2025 – auf Anfrage von Getränke News wegen der notwendigen Planungs-, Genehmigungs- und Bauzeiten als „nicht realistisch“ zurück. Von einer notwendigen Vorlaufzeit von mehreren Jahren spricht auch Linda van Rennings von Aldi Süd. „Eine flächendeckende Umstellung in Deutschland wäre ein sehr komplexes Vorhaben“, so die Pressesprecherin. Zudem seien sehr hohe Kosten zu erwarten.
Wie viele Verantwortliche aus Getränkeindustrie und Handel fürchtet Aldi Nord sogar ökologische Nachteile durch die Verpflichtung zur Rücknahme – und hat dabei vor allem die Individualgebinde im Visier, da ihr Rücktransport „durch zusätzliche Logistikprozesse geleistet werden müsste und einen hohen Flächenbedarf beanspruchen würde“. Aus ökologischer Sicht könne die Pflicht zum Angebot einer Mehrwegalternative nur für Produkte vorteilhaft sein, die von den Kunden „in ausreichender Menge in Mehrweg nachgefragt werden“. Das treffe selbst für Wasser und Bier nur zu, wenn die Anzahl der Individualgebinde deutlich reduziert würde.
Nationale Gesetzgebung führt zu „Flickenteppich“ in EU
Aldi Süd indessen bereitet sich bereits konkret auf die Herausforderungen der Zukunft vor. Neben der fortlaufenden Optimierung der Einwegverpackungen prüfe man schon vor dem Hintergrund der EU-Pläne einer Verpackungsverordnung die Skalierbarkeit von Mehrweggetränkesystemen in Deutschland; Anfang 2024 soll dazu ein Projekt mit ausgewählten Filialen beginnen.
Ausdrücklich negativ äußert sich Joachim Wehner von Aldi Nord zum Vorpreschen des deutschen Umweltministeriums. Als Unternehmensgruppe mit Aktivitäten in acht europäischen Ländern spreche man sich klar für eine einheitliche Regelung im Sinne des europäischen Binnenmarkts aus. Eine vorausgreifende nationale Gesetzgebung „mit unzureichender Beteiligung und fehlenden Übergangsfristen“ führe zu einem „regulativen Flickenteppich“, so Wehner.
Keine Antwort auf die Anfrage von Getränke News kam derweil von Lidl. Angesichts der Tatsache, dass der Discounter nach eigenen Angaben rund 200 Millionen Euro in Anlagen zur Herstellung und Abfüllung von Einweg-Plastikflaschen investierte, dürfte sich die Begeisterung über das große Mehrwegvorhaben allerdings in Grenzen halten. Um einem breiten Publikum die Vorteile seiner Kreislaufflasche zu vermitteln, brachte Lidl im April eine große Kampagne mit Günther Jauch als Testimonial an den Start (wir berichteten). Branchenkenner mutmaßten da bereits, der Vorstoß sei eine Reaktion auf Hinweise, das Bundesumweltministerium plane eine Mehrweg-Novelle, in der auch eine Angebotspflicht verankert werden solle.
Lenkungsabgabe als Mittel der Wahl?
Trotz aller Widersprüche in den Interessen zeigen sich in der Angelegenheit Mehrweg- und Einweglobby in ihrer prinzipiellen Kritik vereint. In mindestens einem Punkt unterscheiden sich die Meinungen allerdings grundsätzlich: Der Mehrwegseite schweben ganz andere Maßnahmen zur Mehrwegförderung vor als sie in der aktuellen Novelle skizziert sind. Gerade auch wegen der zu erwartenden Probleme habe man sich seit Jahren für eine Lenkungsabgabe auf Einwegverpackungen als beste Lösung zum Mehrwegschutz eingesetzt, unterstreicht Günther Guder der Sicht von Pro Mehrweg.
So sieht es auch Dirk Reinsberg vom GFGH-Bundesverband. Eine Sonderabgabe oder Steuer könnte Einweg tatsächlich unattraktiv machen, glaubt er. Für eine solche Regelung fehle aber derzeit der politische Wille, sie fände in der Ampel keine Mehrheit.
Wie es mit der Novelle nun weitergeht, ist völlig offen. Der Entwurf hat nicht einmal die Verbändeanhörung erreicht, und in der parlamentarischen Debatte ist er erst recht noch nicht. Wenn die Gerüchte stimmen, dass es sogar aus der Regierungskoalition heftigen Gegenwind gibt, erreicht das Papier in seiner jetzigen Form dieses Stadium vielleicht auch nie. Klar ist aus Branchensicht nur eines, wie GFGH-Bundesverbandschef Reinsberg glaubt: „Wir können uns nicht vorstellen, dass auf diese Weise eine Stützung des Mehrwegsystems überhaupt nachhaltig erzielt werden kann.“