Jever überlebt fast schadlos mehrere Eigentümerwechsel
Kaum zu glauben, dass die friesisch-herbe Pils-Perle Jever über fünf Jahrzehnte ein Spielball zutiefst unterschiedlicher Konzerninteressen war. Doch anders als mancher Wegbegleiter verlor sie nicht ihr Gesicht in rauen Übernahmegefilden. Trotz wechselnder Konzerneigentümer erfuhr die norddeutsche Markenpersönlichkeit eine imagedienliche Fortentwicklung, sodass sie heute eine unverwechselbare Alleinstellung ganz oben auf der Bittereinheiten-Skala des Pils-Segmentes besitzt.
Obwohl sie längst im Radeberger-Vertriebskoffer gelandet war, blieben ihr Mengenverluste nicht erspart. Seit der Jahrtausendwende gingen im Jahresausstoß gut und gerne 400.000 Hektoliter verloren, der Fassbieranteil halbierte sich auf zuletzt gerade noch 120.000 Hektoliter. Und dennoch: Wenn jemand zu Beginn eines TV-Spots die bizarr-dunklen Wolken am Nordseestrand aufziehen sieht, wartet dieser nur noch darauf, dass der Jever-Mann im beigefarbenen Trenchcoat sich rücklings in den Dünensand fallen lässt. Aber auch das ist Geschichte, zumindest ist hier der freie Fall gestoppt. Der Akteur belässt es aktuell beim weltumarmenden Händeausbreiten.
Die Jeversche „Konzern-Abteilung“ seit 1923
Eigentlich beginnt der konzernmäßige Schulterschluss der kleinen, schmucken Jever Brauerei schon ziemlich früh, als die Bavaria St. Pauli-Brauerei 1923 die bierbrauende Fetköter GmbH übernimmt und kurzerhand zur „Abteilung Jever“ umwidmet. Der Biername erscheint folgerichtig und zeigt die Hamburger Marktorientierung: „Bavaria St. Pauli Bier“! Dabei steigt der Ausstoß in nur einem Jahr von 7.857 auf 20.297 Hektoliter und verdoppelt sich im Folgejahr noch einmal. Es brummt. Erst 1937 darf das Bier nach einem langen Prozess um die Herkunftsbezeichnung als Jever Pilsener vom Hof rollen.
Nach dem Krieg sind es gerade 40 Mitarbeiter, die am Stammsitz die Abteilung Jever wieder in Gang setzen. Die Erfolge stellen sich rasch ein. Das Wirtschaftswunder beschert den Norddeutschen Brauern mit ihrer Hamburger Zentrale steten Zuwachs, zumal man frühzeitig auf die grüne Flasche eingeschworen ist. Kaum zu glauben, schon vor der Jahrhundertwende hatte Theodor Fetköter in Jever für Unverwechselbarkeit gesorgt. Hamburg sollte bis weit in die 1990er-Jahre hinein erst einmal die Steuerungszentrale für die Jever-Geschäftsaktivitäten bleiben. Gerade auch, als das Bavaria St. Pauli Brauhaus als Mutter mitsamt der Marke „Astra“ unters Dach von Reemtsma geschlüpft waren und sich dort 1980 die Brüder Michael und Günter Herz mit 53 Prozent einkauften.
Leidensfähige Marke unter Reemtsma, März und Brau & Brunnen
In den Boomzeiten von Premium-Pils in Deutschland ist es anfangs der Zigarettengigant Reemtsma („Peter Stuyvesant“, „Atika“, „Ernte 23“), der sich mit Brauereiübernahmen auf einem zweiten Genussfeld zu tummeln versucht. Bekannte Marken wie Tucher in Nürnberg, Hannen Alt in Mönchengladbach oder die zeitweise fast zwei Millionen Hektoliter starke Henninger Brauerei in Frankfurt sollen ebenso wie Jever ins Reemtsma-Konzernreich wechseln – allerdings den Eigentümern wenig Freude machen.
Die Familie Herz muss rasch zugestehen, dass ihnen die wirtschaftliche Führung des Biergeschäftes nicht so recht gelingen sollte. Der Verkauf lässt Ende der 1980er-Jahre nicht lange auf sich warten – 1990 ist es geschehen. Josef März, der einstmals kleine Milchhändler und langjährige Intimus der bayerischen Ministerpräsidenten-Legende Franz-Josef Strauß, schwingt sich zum neuen Superbräu im wiedervereinigten Deutschland auf. Er kennt sich mit Ostgeschäften aus, fädelte einst für Strauß den Milliarden schweren DDR-Kredit mit Erich Honecker ein. Urplötzlich gehört einem bayerischen Fleischfabrikanten das Friesische Brauhaus zu Jever. März macht innerhalb weniger Jahre im harten Bieterstreit mit der Bielefelder Oetker-Gruppe und dem britischen Guinness-Konzern die Kasse auf, um als große Braugruppe aufzutrumpfen. Mit dabei auch die Bavaria St. Pauli Brauerei, unter deren Dach sich die norddeutsche Perle Jever verbirgt.
Der Ausflug in den Biermarkt soll in den 1990er-Jahren für Josef März nur wenig Glanz bieten – schon 1994 wird die Gruppe komplett zerschlagen. Die ebenfalls zugehörigen Kulmbacher Aktivitäten wandern mehrheitlich zur Schörghuber-Gruppe, die Dortmunder Union-Schultheiss Brauerei AG mit Sitz in Berlin und Dortmund verleibt sich die Standorte Nürnberg und Jever ein. Die neu formierte Dortmunder Gruppe Brau & Brunnen scheitert 2004, wird von der Oetker-Gruppe geschluckt und mühselig in die Radeberger Gruppenstrukturen integriert.
Aber egal: Wer die vertriebliche Hand über die friesisch-herbe Marke hält, sorgt dafür, dass sie unter den unterschiedlichen Konzerndächern von Bavaria St. Pauli, dann Reemtsma und März, später dann Brau & Brunnen und heute Oetker die verdiente Pflege erhält. Selbst jahresweise immer wieder stark heruntergefahrene Werbebudgets zeigen einmal mehr, wie leidensfähig stabile Premium-Marken wie Jever im deutschen Biermarkt arbeiten können – der Bierfreund liebt eben seine Marken. Dass dabei der Jeversche Standort nicht leiden muss, zeigt der stets gebliebene Qualitätsanspruch bei gleichzeitigen Investitionen in den Markenauftritt.
Verwaiste Büros und keine großen Gesichter
Lediglich an Gesichtern soll es nach dem Ende von Brau & Brunnen gänzlich fehlen. Sind es bis dahin branchenbekannte Vertriebsleute, die im Biermarkt für Profil sorgen, muss Jever darauf seit langem verzichten. Mit Bolko Schröder verlässt das letzte Urgestein der Jever Brauerei zur Jahrtausendwende die große Bühne „seines Traditionshauses“. Schröder war 1952 gleich nach der Schule zur Brauerei gekommen und hatte sich dort durch alle Schreibstuben hochgearbeitet – zum Schluss ist er so etwas wie eine Reminiszenz an den großen Aufstieg der Marke Jever. Als PR-Direktor wacht er bis zum Schluss über die Außenwirkung der Marke, zieht als SPD-Mitglied im Stadtrat und sogar als stellvertretender Bürgermeister die lokalen Strippen. Mit seinem Weggang verwaisen die Jeverschen Büros endgültig. Zunächst übernimmt noch Brau & Brunnen die Markenführung und PR-Geschicke, danach werden sie zum Appendix der Oetker-Aktivitäten mit Radeberger-Markensteuerung.
Jever mit Frankfurter Marken- und Vertriebssteuerung
Mit der Übernahme von Brau & Brunnen und der Markenperle Jever im Jahr 2004 kommt Radeberger-Lenker Ulrich Kallmeyer seinem oft ausgerufenen, aber nie erreichten Ziel eines Marktanteils der Braugruppe „von mindestens 20 Prozent“ zumindest einen kleinen Prozentschritt näher. Die Marke Jever soll auf dem Weg dorthin das leisten, was bis dahin keine der Biermarken aus dem Oetker-Portfolio leisten kann. Endlich ist sie da – die lang ersehnte Premium-Pils-Marke mit nationalem Anspruch! Mit einem Ausstoß von 1,22 Millionen Hektolitern hat die friesische Biermarken-Institution im Übernahmejahr 2004 ihre Bestmarke von bemerkenswerten 1,54 Millionen Hektolitern im Jahr 2001 hinter sich gelassen. Im selben Zeitraum hatten sich die Fassbierabsätze um 40.000 auf 230.000 Hektoliter im Übernahmejahr reduziert.
Für die Marken- und Erfolgsgeschichte von Jever bedeutet es dennoch kein Einzelschicksal, dass einer reputierten Biermarke nach einer klassischen Konzernübernahme marktgewollte Schrumpfung widerfährt. Auch fortan zählt Jever im Oetker-Bauchladen zu den gern ausgetauschten Premium-Marken im gastronomischen Vertriebspoker. Während es bei Brau & Brunnen jenseits von Dortmund und Berlin kaum eine Alternative zum Premium-Pils von Jever gab, schlägt jetzt das auf Abschluss bedachte Vertreterherz für die keineswegs so herbe, aber dafür gefälligere Marke Radeberger.
So gelingt es innerhalb der vertrieblichen Bemühungen des Radeberger Außendienstes, den veritablen Fassbieranteil aus dem Übernahmejahr innerhalb von nur 15 Jahren fast zu halbieren. Schade um die gastronomische Präsenz des ovalen Jever-Gastronomiesiegels. Stattdessen positionieren Frankfurts Radeberger-Strategen die Marke richtig und denkbar spitz: friesisch-herb eben und in der grünen Longneck-Bottle der unverwechselbar norddeutschen Herkunft angepasst. Die Markenkampagne tut ihr übriges, um die etablierten Werte und das Markenbild beim Verbraucher zu schärfen.
Das Bier-Quintett aus dem Norden
Heute stehen fünf Produkte für einen Markenausstoß von zuletzt knapp 1,2 Millionen Hektolitern – drei Viertel davon Pilsener. Mit sage und schreibe 40 Bittereinheiten traut sich die Radeberger Gruppe sichtlich unerschrocken, um die Gunst der Freunde von herbem Pils zu buhlen. Angriffe von Wettbewerbern wie Warsteiner Herb perlen geradezu ab. Dass dabei südlich der Weißwurst-Linie und damit unweit des Frankfurter Konzernsitzes keine nennenswerten Absatzzuwächse zu erzielen sind, nimmt man bei Radeberger gern in Kauf. Das ist der Preis, den man heute im Biermarkt für eine klar positionierte Marke zu zahlen hat.
Erfolgreich hat sich Jever Fun im Spektrum der alkoholfreien Biere positioniert. Mit gerade noch 32 Bittereinheiten mausert sich das zunächst als Vollbier eingebraute Fun rasch zu einer differenzierenden Alternative. Im Segment der Biermischgetränke sind außerdem die Geschmacksrichtungen Zitrone und Blutorange im Markt unterwegs. Das schon 1997 zum Abklingen der Light-Welle eingeführte Jever Light führt hingegen ein Schattendasein und genießt eher Liebhaber-Status. Jever Dark wird nach nur sechsjähriger Marktpräsenz 2008 eingestellt. Das Revival eines Jever Maibocks als Marktversuch unter Radeberger-Obhut zwischen 2006 und 2009 fällt so ernüchternd aus, dass es im letzten Jahrzehnt nicht mehr für eine Neuauflage reichen soll. Dem Verlust der Verbraucher-Wertschätzung von Lemon-Biermixen folgt 2019 konsequenterweise die Produkteinstellung des 2004 eingeführten Jever Lime. Dafür gibt’s reichlich friesisch-frische Kommunikation.
Der Trenchcoat-Mann in den Dünen
„Wie das Land, so das Jever!“ Dieser Claim steht buchstäblich wie ein Fels in der Nordsee-Brandung. Wer die wenigen norddeutschen Premium-Marken in ihrer Positionierung miteinander vergleicht, der kommt rasch zu einem grundsätzlichen Schluss: Nur Jever ist es als Marke über all die Jahre gelungen, seinen herben Pils-Geschmack glaubwürdig in ein tragfähiges Markenimage zu verwandeln. Es sind Bilder, die nichts anderes als Klischees sind. Und dennoch gelingt es ihnen, den Verbraucher auf der Suche nach ursprünglicher Ruhe und Naturbelassenheit anzurühren.
Dabei steht außer Zweifel, dass es der TV-Spot mit dem Dünen-Mann ist, der sich voller Urvertrauen rücklings in den Sand fallen lässt. Zuletzt wird auf den Umfaller ganz verzichtet. Aber was hat das alles mit Bier zu tun? Wenig bis gar nichts! Doch der Imagetransfer dieser Szenen funktioniert seit den 1980er-Jahren tadellos. Und das, obwohl sich auch unter dem Besitzerwechsel immer wieder neue Markenführer und beflissene Agenturen elanvoll berufen fühlen, dem Jever Pilsener neue Impulse zu geben.
Vielleicht ist die weitgehend gesichtslose Präsenz der Marke Jever in der Innenwirkung der Getränkebranche – ohne jeden Macher, ohne jeden kantigen Unternehmer – auch ein Teil des Markenerfolgs, weil es nun wirklich überhaupt keine weiteren Imagefacetten rund um das friesisch-herbe Gebräu gibt. Ausflüge in den Motorsport haben keine Spuren im Dünensand hinterlassen. Das eine oder andere Volleyballturnier am Nordseestrand gilt als plausibel, wenn es als Engagement auch eher reichweitenschwach und national wenig durchdringend ist.
Dass 2004 die neuen Oetker-Eigentümer die Marke stringent in ihr differenzierendes Profil zwängten, sollte die Marke bis heute nicht schwächen. Schon zu Zeiten von Brau & Brunnen waren die Markengestalter schon längst nicht mehr an der Nordseeküste aktiv, sondern lenkten von Hamburg aus die Geschicke. Dass man nun in Frankfurt, an einem Ort, wo friesisch-herbes Pils angesichts seiner Nordlastigkeit als nahezu unverkäuflich gilt, die Regie führt, ist eine dieser kuriosen Entwicklungen, die die deutsche Brauindustrie schreibt.
Fazit: Das Denkmal eines herben Pilseners
40 Bittereinheiten – das reicht und ist manchem schon zu viel. Aber der Biermarkt bleibt auch weiterhin offen für eine Premium-Marke, die sich unzweifelhaft und schmeckbar dem herben Pils-Genuss verpflichtet fühlt. Ein Abweichen von dieser gelebten Markentradition wäre tödlich, ist aber auch nicht zu erwarten. Der Fokus ist so wenig wortreich und vielsilbig, wie der Menschenschlag entlang der Nordsee. Bei Jever weiß man, was man hat. Punkt! Wenig Print, dafür durchaus respektable TV-Spendings, garniert mit ein paar selektiven Vkf-Promotions, genügen, um der nach Radeberger zweiten Premium-Marke im Oetker-Portfolio weiterhin zu veritabler Verbraucher-Wertschätzung zu verhelfen. Dabei geben sich nicht einmal die kenntnisreichen Marktbeobachter der Fantasie hin, dass es für die Marke im Premium-Segment noch veritables Wachstum gibt. Jever steht für herbes Pils und die Ursprünglichkeit der rauen Nordseelandschaft – für nicht mehr, aber auch nicht für weniger.
Zahlen & Fakten
Ausstoß 2019: 1,2 Millionen Hektoliter*
Export: 10.000 Hektoliter*
Fassbieranteil: rd. 120.000 Hektoliter *
Marktanteil Pils-Segment/Handel: 2,3 Prozent**
*geschätzt
**AC Nielsen 1-12/2019
Über die Serie
In unserer Serie „Bier-Marken-Analyse 2020“ betrachten wir monatlich eine der Top-Biermarken in Deutschland. Teil 13 „Franziskaner“ erscheint Anfang Juli 2020.