Ein Bier oder ein Glas Wein schaden nicht – diese Botschaft haben staatliche Ernährungswissenschaftler über Jahrzehnte guten Gewissens vertreten. Nun hat die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) überraschend ihre Position gewechselt und warnt offensiv vor Alkohol: Es gebe „keine risikofreie Menge für einen unbedenklichen Konsum“, so die DGE. Selbst geringe Mengen könnten das Risiko für verschiedenste Krankheiten erhöhen und damit die Gesundheit gefährden. Die DGE empfiehlt daher, auf alkoholische Getränke generell zu verzichten.
In der Wissenschaft ist diese Kehrtwende nicht unumstritten, auch Verbände wie der Deutsche Brauer-Bund üben Kritik. Im Interview mit Getränke News erläutert Brauer-Bund-Chef Holger Eichele die Hintergründe.
Getränke News: Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung hat Alkoholgenuss bisher eher entspannt betrachtet. Gesunden Männern billigte die DGE pro Tag zwei Bier je 0,3 Liter oder zwei kleine Gläser Wein zu, Frauen etwa die Hälfte. Nun aber heißt es: „Am besten null Promille“. Warum hat die DGE ihre Meinung geändert?
Eichele: Die DGE folgt hier eher unreflektiert dem Kurs der Weltgesundheitsorganisation, die ebenfalls behauptet, es gebe „kein sicheres Maß“ für Alkoholkonsum. Beide Institutionen berufen sich auf ausgewählte internationale Studien. Das Problem: Keine dieser Studien liefert einen Beleg für die pauschale Warnung selbst vor geringsten Mengen Alkohol. Ich denke, das weiß auch die DGE. Dennoch verzerrt sie mit ihrer Kampagne die Wirklichkeit und spiegelt eine wissenschaftliche Evidenz vor, die es nicht gibt.
Getränke News: Aber es besteht Konsens, dass Alkoholkonsum nicht die Gesundheit fördert …
Eichele: Natürlich ist völlig unstrittig, dass Alkoholmissbrauch ernsthafte Gesundheitsrisiken birgt. Auch wenn heute in Deutschland etwa 40 Prozent weniger getrunken wird als noch in den 1970er Jahren und sich gerade junge Menschen immer bewusster verhalten, bleibt Missbrauch ein gesellschaftliches Problem, das weiter eingedämmt werden muss.
Ebenso muss klar sein, dass in bestimmten Lebenssituationen generell keine alkoholischen Getränke konsumiert werden dürfen: Der Schutz von Kindern und Jugendlichen hat oberste Priorität, die gesetzlichen Abgabeverbote in Handel und Gastronomie müssen konsequent eingehalten werden. Schwangere und Stillende sollten kategorisch auf alkoholische Getränke verzichten. Wer Auto, Fahrrad oder Roller fährt, wer Sport treibt, Medikamente einnimmt oder Maschinen bedient, muss sich ebenfalls der Wirkung von Alkohol bewusst sein.
Getränke News: Wo verläuft die Grenze zwischen Genuss und Missbrauch?
Eichele: Wir kennen unsere Verantwortung als Hersteller. Die Brauereien setzen sich für einen bewussten und moderaten Genuss im Rahmen eines gesunden Lebensstils ein. Die überwiegende Mehrzahl der Menschen handelt sehr verantwortungsbewusst. Ich wehre mich dagegen, dass ein bewusster, moderater Konsum alkoholischer Getränke mit hochriskantem Missbrauch gleichgesetzt wird. Das Thema ist komplex und muss deshalb auch in seiner Komplexität diskutiert und kommuniziert werden. Gerade von Institutionen wie der DGE, die sich auf Wissenschaftlichkeit beruft und zu etwa 75 Prozent aus Steuergeldern finanziert wird, kann man mehr Sorgfalt und Professionalität erwarten.
Getränke News: Was werfen Sie den Kritikern vor?
Eichele: Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass die Auswirkungen von Alkohol stark variieren können – je nach Geschlecht, nach Alter, Lebensstil, genetischen Faktoren und individuellem Gesundheitszustand. Was für den einen in Maßen völlig harmlos sein kann, kann sich für einen anderen als schädlich erweisen. Kurz: Reden wir über Risiko, spielt das Individuum eine wesentliche Rolle, aber dieser Faktor wird in der Diskussion leider vollkommen ausgeblendet.
Getränke News: Aber es werden bekannte Studien zitiert, die eine generelle Warnung vor Alkohol nahelegen…
Eichele: Ist das wirklich so? Es werden Studien herangezogen, die teils widersprüchlich sind oder nur eine eingeschränkte Datenbasis haben. Die pauschale Warnung der DGE wird aus reinen Beobachtungsstudien abgeleitet, die prinzipiell keine kausalen Zusammenhänge belegen können, sondern nur Korrelationen aufzeigen, also das statistische Zusammentreffen von Beobachtungen. Auch die DGE scheint sich des Problems bewusst zu sein, sonst würde sie nicht versteckt in ihrem Papier darauf hinweisen. Ihre Glaubwürdigkeit erhöht sich dadurch nicht…
Getränke News: Auch dass die DGE als Beleg die renommierte „Global Burden of Disease“-Studie zitiert, die zum Ziel hat, das weltweite Ausmaß an Krankheiten und Risikofaktoren abzuschätzen, überzeugt Sie nicht?
Eichele: Das Problem ist, dass die DGE offenbar nicht bereit ist, wissenschaftliche Korrekturen anzuerkennen. Weil bei dieser 2018 veröffentlichten Studie erhebliche methodische Probleme bestanden, wurden die Daten vom selben Forscherkreis in einer differenzierteren Analyse neu bewertet und die neuen Ergebnisse 2022 veröffentlicht. Nach der aktualisierten Auswertung gibt es nun doch einen „sicheren Bereich“ für einen maßvollen Alkoholkonsum. Das ist eine echte Kehrtwende! Die DGE hat diese neuen Ergebnisse in ihren Empfehlungen zwar nicht ignoriert, aber doch die falschen Schlussfolgerungen daraus gezogen.
Getränke News: Steht die Alkoholwirtschaft mit ihrer Kritik allein?
Eichele: Keineswegs. Wissenschaftler aus Harvard machen sich für eine differenzierte Sicht auf die von der WHO weltweit vorangetriebene Kampagne stark. Sie werben dafür, die Komplexität anzuerkennen und die Debatte nicht auf eine einzige, irreführende Schlussfolgerung zu reduzieren. Die ironische Überschrift des Harvard-Artikels ist bezeichnend und gibt das Dilemma wieder: „Ist Alkohol gut oder schlecht für Dich? Ja.“