Heimat genießt Wertschätzung – und macht dankbare Menge. So erlebt es Ur-Krostitzer, dessen Ausstoß sich innerhalb des letzten Jahrzehnts verdreifacht hat. Ohne viel Aufhebens und im Schatten von Radeberger Pilsener hat sich die Regionalmarke der Radeberger Gruppe eine respektable Nachfragekraft in Sachsen und ringsherum erarbeitet.
Zu Kombinatszeiten gesuchte „Bückware“
Zu DDR-Zeiten ging es der Ur-Krostitzer Brauerei wie vielen anderen Marken: vernachlässigt, Investitionsstau und verbesserungswürdige Produktqualität. Dabei starteten die 140 Mitarbeiter 1990 mit einem durchaus sympathischen Rückenwind, weil das angestammte Bier in und um Leipzig einen guten Ruf genoss – damals für DDR-Biere keine Selbstverständlichkeit. Im dortigen Getränkekombinat hatte es vor der Wende eine Schlüsselfunktion in der Versorgung des sächsischen Binnenmarktes.
Zu Beginn der 1990er Jahre führte Gerhard Hohmann die Brauerei, für die er seit 1961 bereits in Diensten stand, in die neue Zeit. Die Marktwirtschaft war da, aber kein Geld. Und Hohmann war froh darüber, dass sich die Binding-Brauerei seines Unternehmens schnell angenommen hatte. Für die dringend notwendigen Investitionen hätten ansonsten keine Mittel zur Verfügung gestanden, man war auf Hilfe von auswärts angewiesen. Stolze 200.000 Hektoliter waren in der Honecker-Ära vor 1989 immer schnell an den Mann und die Frau gebracht, zuweilen als Bückware, wie es in Radeberg und Wernesgrün genauso üblich war. Bier galt als allseits wertgeschätzt, für Gefälligkeit gar als Zweitwährung.
Investitionen nach der Wiedervereinigung
Warum gerade die zum Bielefelder Oetker-Konzern gehörende Binding-Brauerei in Frankfurt, die zu DDR-Zeiten nicht gerade den Glanz der begehrten West-Marken versprühte? Die Antwort gab Brauerei-Chef Gerhard Hohmann selbst. Er schrieb gerade mal vier Wochen nach dem Mauerfall an die Frankfurter Zentrale, um mit dem „Direktorium ins Gespräch zu kommen“. Hohmann war 1932 in Kassel geboren und kannte die dortige Hercules-Brauerei, die seinerzeit zu Binding gehörte und in der er mit seinem Vater mehrmals zu Gast war. Schmackhaft machte er die Zusammenarbeit mit der Oetker-Bier-Dependance, weil der Antrag auf Ausgliederung aus dem Getränkekombinat Leipzig bereits gestellt war – die Entlassung des Unternehmens in die Selbstständigkeit der Marktwirtschaft sollte nicht lange auf sich warten lassen. Kaum zu glauben, dass die Kindheitserinnerungen eines DDR-Brauerei-Lenkers letztlich die Weichen für die Zukunft stellen sollten.
Per Telegramm aus Frankfurt ließ Vertriebsvorstand Werner Röttger schon zehn Tage nach dem Eintreffen des Erstkontaktes seine Besuchsabsichten noch zwei Tage vor Silvester mitteilen. „Zwischen 10 und 11 Uhr, je nach Grenzabfertigung“ wollte der Frankfurter Gesandte in Sachsen eintreffen, um das Feld zu sondieren. Tatsächlich hatte die Brauerei in der Aufbauphase mit der Binding-Brauerei an ihrer Seite extrem hohe Investitionen zu verkraften, die mit 12,5 Millionen D-Mark fast die Hälfte des Umsatzes erreichten. Die Aufgaben waren vielfältig, aber zukunftsweisend. Eine komplett neue Mehrwegabfüllung wurde angeschafft, das Fassbier auf KEG umgestellt und eine neue Fassbier-Abfüllanlage aufgebaut. Außerdem wurde ein komplett neuer Produktionsblock in Angriff genommen.
Es war sicherlich ein Stück Wehmut in der Belegschaft spürbar, als im Februar 1991 die alte, völlig verschlissene Abfüllanlage für die Mehrwegflaschen ein letztes Mal angefahren wurde, um danach verschrottet zu werden. Mit Binding-Unterstützung und der Oetker-Finanzspritze im Rücken bewegte sich so einiges auf dem Brauereihof. Investitionspläne wurden geschmiedet und alsbald umgesetzt. Mehr noch: Die Zahl der Getränkefachgroßhändler verdoppelte sich innerhalb von nur einem Jahr auf 600, hinzukamen die Vertriebsschienen des Handels, die das heimische Produkt unterstützten. Schon 1991 ging eine neue Abfüllstraße mit einer Stundenleistung von 30.000 Flaschen in Betrieb, außerdem machte sich eine KEG-Linie für das gastronomische Fassbiergeschäft schnell bezahlt. Und die Leipziger Brauer blieben ihrer Ur-Krostitzer-Geschichte treu. Die neuen Etiketten zu Beginn der 90er Jahre passten sich mit ihrer grün-weißen Gestaltung an die sächsischen Landesfarben an.
Heimatmarkt bedeutet Wachstum
Die Marke Ur-Krostitzer wurde auf Kurs gebracht, wie es sich gehört. Ihr ging es seither stets um Heimatverbundenheit. Kein Gold, kein Super-Premium – ein Bier auf Augenhöhe mit dem stolzen Sachsen. So war das Unternehmen 1992 Miterfinder des Leipziger Stadtfestes, zwei Jahre später wurde der 460. Geburtstag gefeiert – mit 1.400 Gästen in der Leipziger Oper. Binding-Vorstandsvorsitzender Klaus Peter Erbrich bilanzierte nach der Inbetriebnahme der neuen Abfüllhalle, dass sich Ur-Krostitzer „tapfer schlägt“.
1996 erstrahlte der erste TV-Spot mit dem Claim „Ur-Krostitzer – Das Premium vom Lande.“ Darin drehte sich ein goldener Hahn funkelnd im Licht. Eine schöne Idee, aber wenig zweckdienlich. Ein kreativer Glücksgriff sieht jedenfalls anders aus. Das sollte sich 1996 mit der Rückbesinnung auf alte Werte ändern. Ur-Krostitzer fand zur Vergangenheit zurück und erhielt ein neues, altes Markengesicht. Der Schwedenkopf, der die Marke zu DDR-Zeiten so unverwechselbar gemacht hatte, kommt ausdrucksstärker denn je zurück, dazu ein kräftiger, Markenprofil gebender Schriftzug.
Ausstoßmenge verdreifacht
Vor der Jahrtausendewende gab die Marke in der Binding Gruppe keinen Grund zu Luftsprüngen, aber der sächsische Standort war ausgerichtet und gut aufgestellt. Eine Ära ging zu Ende, als der langjährige Brauereidirektor Gerhard Hohmann sich in den Ruhestand verabschiedete. 1998 folgte Ur-Krostitzer ihrem Köstritzer Vorbild und führte ein Schwarzbier ein. Es mag wenig überraschen, dass die Produktmanager aus Frankfurt ein ähnliches Label und ein formgleiches Markenglas wählten.
Gleich zum Jahrtausendwechsel konnte das Unternehmen eine zufriedenstellende Bilanz ziehen. Die Wendejahre mit einem Nachlauf von hohen Investitionen waren inzwischen Geschichte – die Brauerei steuerte auf die Zukunft zu. Mit ihren drei Bieren, dem Premium-Pils, dem Schwedenquell-Pils und dem Schwarzbier – alles wurde in 0,5-Liter-Flaschen oder in 30- bzw. 50-Liter-Fässern ausgeliefert – erreichte das Unternehmen einen Ausstoß von 335.000 Hektolitern. Angesichts der Notwendigkeit zur Kapazitätserweiterung erfuhr das Brauereigelände zwischen 2002 und 2004 eine komplette Sanierung. Zahlreiche alte Fabrikgebäude, darunter auch die Mälzerei mit der alten Darre, wurden abgerissen. Auf den altgemauerten Gewölbekeller wurde ein Saalbau gestellt, der als Gäste- und Besucherzentrum fungiert.
Attraktiver Aktionspreis
Fortan macht die Ur-Krostitzer-Brauerei alles richtig. Sie hat sich im Vertriebskoffer der Binding Gruppe, die 2002 in Radeberger Gruppe umbenannt wird, einen wichtigen Platz erobert. Das Regionalportfolio macht es möglich. Immer dann, wenn die Frankfurter Zentrale Wachstumsimpulse verspürt, gibt sie ihren Marken zusätzliche Kraft. So auch für Ur-Krostitzer, das die Freiheit erhält, sich neben dem renommierten Radeberger Pilsener zu positionieren. Doch das Markenprofil beider Marken ist so unterschiedlich, dass keinerlei Verwechslungsgefahr besteht. Heimatbewusstsein heißt Ur-Krostitzer, sächsischer Premium-Genuss findet mit Radeberger Pilsener statt.
Dass der Preis gerade in Sachsen und den angrenzenden Bundesländern Thüringen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg heiß ist, zeigt die Aktionsdynamik der letzten fünf Jahre. Meist ist der Halbliter-Kasten ein bis zwei Euro unter Radeberger Pilsener erhältlich und überschreitet selten die 10-Euro-Marke. Für die Verwender von Sternburg, die das Preiseinstiegssegment verlassen wollen, wird Ur-Krostitzer zur schnellen Wahl, für heimatbewusste Sachsen soll die Marke rasch zum Lieblingsbier werden. In der Sandwichposition zwischen Sternburg und Radeberger Pilsener wird die Marke zum Ausstoßbringer. Mit zahlreichen Verkaufsförderungsaktionen, die bewusst an die Bedürfnisse des sächsischen Publikums angepasst sind, sorgt die Radeberger Gruppe für eine Akzeptanz, die letztlich dazu beiträgt, dass man Ur-Krostitzer nach einem kontinuierlichen Wachstumsweg zum Hektoliter-Millionär macht.
Überschaubares Portfolio
Wenn das mal nicht erfreulich überschaubar ist – die Abfüllung und Logistik der Brauerei freut sich: Mit vier Produkten kann Ur-Krostitzer den ostdeutschen Markt in vielen Regionen für sich gewinnen. Das feinherbe Pilsener gehört ebenso dazu wie das Schwedenquell-Pils, das Schwarzbier und ein alkoholfreies Pilsener. Gute Qualität, guter Geschmack – und keine Experimente. Die Radeberger Gruppe fährt gut mit diesen vier Rezepten, die nicht Gefahr eines Verzettelns laufen, sondern vielmehr den Beweis antreten, dass die Konzentration auf das Wesentliche den Erfolg ausmacht. Zugpferd bleibt das feinherbe Pilsener, das als untergärig eingebrautes Vollbier mit einem frischen Körper, einer weichen, seidigen Textur und feinherbem Hopfenaroma überzeugt.
Während das Schwedenquell-Pils eine Fangemeinde noch aus DDR-Zeiten für sich vereinnahmen kann und mit leicht gehopftem Auftritt über einen feinbitteren, würzigen Körper verfügt. Diese Fähigkeit und die durchaus sprudelnde Kohlensäure schaffen eine deutliche Differenzierung zum Marken-Pils aus dem eigenen Haus. Beim Schwarzbier freilich wird die Verwechslungsgefahr mit dem Köstritzer-Schwarzbier gern in Kauf genommen. Warum auch nicht, im Fahrwasser einer starken Marken lässt sich gut mitschwimmen. Dabei erzählt die Brauerei gern die Geschichte, dass sie zu den ältesten Schwarzbierbrauereien Mitteldeutschlands zählt. Schon 1534 wurden vor Ort Biere gebraut, dunkle natürlich.
Marktanteile unterm Gruppendach getauscht
Wer genau hinschaut, dem bleibt es nicht verborgen: Im Heimatmarkt Sachsen ist es unter demselben Gruppendach zwischen den zwei Zugpferden Radeberger und Ur-Krostitzer zu einem veritablen Mengenaustausch gekommen. Dabei büßte die Radeberger Gruppe im Handel in ihrer wertmäßigen Position durch den Markenswitch der Verbraucher deutlich ein, weil die Preisstellung von Ur-Krostitzer seit jeher deutlich unter Radeberger angesetzt ist. Während Radeberger Pilsener 2020 einen Marktanteil von 2,2 Prozent erreicht, folgt Ur-Krostitzer bereits mit 2,0 Prozent und rangiert damit in der Oetker-Gruppe auf Augenhöhe mit Jever.
Freiberger und Sternburg schaffen es gerade mal auf 1,0 Prozent Marktanteil. 2009 lag der nationale Marktanteil von Sternburg noch bei 1,9 Prozent, Ur-Krostitzer bewegte sich unter der Prozentmarke. Alle anderen Marken in Deutschlands größter Biergruppe schwimmen unter der Prozent-Marke, ohne auch nur annähernd eine Chance auf nationale Wahrnehmung zu erreichen. Dabei bleibt es in Bielefeld und Frankfurt gleichermaßen ein fortwährendes Dilemma, das die langjährigen Gruppenchefs Ulrich Kallmeyer, Dr. Albert Christmann und auch der akquisitionshungrige Dr. Niels Lorenz nicht zu verändern vermochten. Oetker ist mit seinem Bierengagement ein regionaler Bierfürst geblieben – mit Lichtblicken in Berlin, Sachsen, Frankfurt, Dortmund und an der Nordseeküste. In den anderen Regionen taucht keine Marke unter den Top 5 auf. Damit ist Oetker mit seiner Biersparte weit von der Unternehmensphilosophie entfernt, in den einzelnen Warengruppen Marktführer oder Marktzweiter zu sein.
Fazit: Schöner Erfolg, aber keine Gefahr für den Wettbewerb
Der Aufstieg von Ur-Krostitzer bleibt ein Achtungserfolg, der viel sagt über das Verbraucherverhalten in den neuen Bundesländern: Ja zur regionalen Heimatmarke, aber bitte zum günstigen Preis. Und für den Wettbewerb bedeutet der Ausstoßerfolg über der Hektoliter-Million ein Ausrufezeichen, aber keine Gefahr, anderswo auftrumpfen zu können.
Zahlen & Fakten
Gegründet: 1534
Vertriebsschwerpunkt: Sachsen und neue Bundesländer
Ausstoß 2019: 1,2 Millionen Hektoliter**
Fassbier: 90.000 Hektoliter**
Marktanteil: 2,0 Prozent*
*AC Nielsen 2020
**geschätzt
Zur Serie
In unserer Serie „Bier-Marken-Analyse 2020“ stellen wir die Top-Biermarken in Deutschland vor und betrachten deren Historie.