Das rasante Wachstum der Getränke-Lieferdienste scheint hierzulande vorbei zu sein. Nachdem die Pandemie für enorme Zuwächse und Wachstums-Fantasien in der Branche sorgte, entwickelt sich das Geschäft nun eher schleppend. Der Lebensmittellieferdienst Getir, zu dem auch Gorillas gehört, verlässt gerade den hart umkämpften deutschen Markt.
Aktuell dominieren hierzulande große Unternehmen das Geschäft, darunter: der bereits 2011 gestartete Rewe-Lieferservice, die Firma Picnic, die seit 2018 in Deutschland vertreten ist, der zur tschechischen Rohlik-Gruppe gehörende Lieferdienst Knuspr, der vor gut drei Jahren in München an den Start ging, sowie die seit 2016 bestehende Oetker-Tochter Flaschenpost. Alle vier expandieren seit Jahren und wachsen deshalb beim Umsatz, sie dürften jedoch alle nach wie vor tiefrote Zahlen schreiben.
Das 2016 gegründete Start-up Flaschenpost galt als Erfolgsmodell, obwohl es von Beginn an einen negativen monatlichen Cash-Flow auswies. Der Umsatz wurde jedoch von 2018 auf 2019 und von 2019 auf 2020 jeweils verdreifacht und lag 2020 bei 200 Millionen Euro. Aufgrund der guten Geschäftsentwicklung – und vermutlich, um einen Konkurrenten des eigenen Lieferdienstes Durstexpress vom Markt zu bekommen – kaufte die Oetker-Gruppe im selben Jahr das Unternehmen; Durstexpress ging danach in Flaschenpost auf. Damals wurde in der Start-up-Szene ein Kaufpreis von einer Milliarde Euro kolportiert. Dieser dürfte jedoch deutlich darunter gelegen haben, Experten schätzen ihn auf 200 bis 300 Millionen Euro. Über den Kaufpreis haben beide Unternehmen Stillschweigen vereinbart.
Zum Online-Supermarkt umgebaut
Oetker investierte weiter und setzte auf Expansion. Schließlich dürften in Zukunft vor allem in den Ballungsräumen die Parkplatznot und immer weniger eigene Autos zu mehr Lieferungen an die eigene Haustür führen, so offenbar die Rechnung. Und weil der Oetker-Konzern neben dem umfangreichen Getränkeportfolio der Radeberger Gruppe auch jede Menge Lebensmittel anzubieten hat, wurde Flaschenpost zu einem Online-Supermarkt umgebaut.
Das Sortiment umfasst derzeit pro Standort mehr als 5.000 Artikel aus allen Bereichen eines Vollsortimenters wie Ultrafrische, Frische/Kühlung, Tiefkühlkost, Trockenlebensmittel, Getränke, Drogerie- und Haushaltsartikel. Der Umsatz von Flaschenpost dürfte inzwischen bei 500 Millionen Euro liegen, Gewinn bislang offenbar Fehlanzeige. Konkrete Angaben zur Umsatz- und Ergebnisentwicklung macht Oetker nicht.
Mit der Umstellung auf das breite Sortiment ist das Management zufrieden: „Rund zehn Millionen Bestellungen im Jahr sind für uns ein klarer Beleg, dass unser auf einen Wocheneinkauf ausgerichtetes Vollsortiment von den Kunden gut angenommen wird“, sagt Pressesprecherin Sabine Angelkorte auf Anfrage von Getränke News. Aktuelle Entwicklungen, wie zum Beispiel die Inflation, würden das Unternehmen nicht stärker als den Gesamtmarkt betreffen, erklärt Angelkorte.
Bundesweit betreibt Flaschenpost heute 32 Lager- und drei Verwaltungsstandorte. Insgesamt 17.000 Mitarbeiter versorgen das Liefergebiet von rund 200 Städten in ganz Deutschland, teilt das Unternehmen mit. Mit der Inbetriebnahme eines Zentrallagers Anfang 2024 sollen die Komplexität in der Lieferkette reduziert, Warenströme konsolidiert und die Warenverfügbarkeit für alle Standorte optimiert werden, heißt es.
Fehlende Fahrer belasten Geschäftsmodelle
Eine der größten Herausforderungen der Lieferdienste ist es, genügend Fahrer und Zusteller zu finden und auch zu halten. Bei Flaschenpost wird das Problem eher klein geredet: „Unsere Mitarbeitenden sind fest angestellt. Wir bieten sichere Vollzeitstellen, aber auch Midi- und Minijobs, um uns in den Anstellungsarten an die individuellen Bedarfe je nach Lebenssituation, beispielsweise während des Studiums, anpassen zu können“, sagt Angelkorte. Flaschenpost reagiere auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Mitarbeitenden mit einem flexiblen Schichtsystem, aber auch mit verschiedenen Corporate Benefits, einer flächendeckenden Bezahlung über Mindestlohn zuzüglich Boni sowie einem umfassenden Hospitationsprozess, erklärt die Sprecherin. Dass es in der Branche immer schwieriger wird, Fahrer zu finden, die die schweren Getränkekisten schleppen, darüber verliert die Sprecherin kein Wort.
Dabei soll es auch bei Flaschenpost oftmals großen Personalmangel geben. Wie ein Insider gegenüber Getränke News schildert, arbeiten dort zum größten Teil Teilzeitkräfte als Fahrer und Kommissionierer. Sie tragen sich digital in den Schichtplan ein. Bei gutem Wetter wolle jedoch kaum jemand von ihnen arbeiten und es gebe dadurch oft nicht genügend Fahrer. Auch bei der Kommissionierung würden dann Arbeitskräfte fehlen. Das sei ein großes Problem und führe in einigen Ballungszentren dazu, dass die versprochene Lieferzeit von maximal 120 Minuten ab Bestellung oftmals nicht eingehalten werden könne und der Onlineshop zeitweise vom Netz gehe, was wiederum die Kunden verärgere. Man denke intern bereits darüber nach, in einigen Liefergebieten die versprochene maximale Lieferzeit von 120 auf 180 Minuten auszuweiten.
Kleine Lieferdienste nicht erfasst
Fest steht: Das Geschäft der Heimlieferung bleibt herausfordernd. Nicht nur für die großen Unternehmen der Branche, die sich erst in den letzten Jahren formiert haben. In Deutschland gibt es traditionell sehr viele kleine Lieferdienste, die im Gegensatz zu den Großen nicht nur die Ballungsgebiete, sondern auch den ländlichen Raum versorgen. Branchenkenner gehen von mehr als 4.500 kleinen Unternehmen aus, die allerdings nicht in der Statistik der Getränkehersteller auftauchen, weil sie ihre Waren über Selgros, Metro, den Getränkefachgroßhandel und andere Quellen beziehen.
Einer der kleineren Lieferdienste ist Blue Getränke aus Hamburg. Mit 14 Fahrzeugen beliefert das Unternehmen als einziges ganz Hamburg und erwirtschaftet einen Jahresumsatz von 2,8 Millionen Euro. Peter Alexander von der Marwitz, der Blue Getränke vor über 20 Jahren gründete und heute altersbedingt „nur noch“ begleitet, stellt seit ein paar Jahren ein verändertes Einkaufsverhalten fest. „Die Kunden nutzen das Internet als Onlineshop und suchen vermehrt in den Suchmaschinen nach Angeboten. Neuerdings auch sprachgesteuert mit KI. Sprechend etwas mit Siri oder Alexa zu suchen ist anders als bei Google zu tippen“, so von der Marwitz gegenüber Getränke News. „Wir versuchen, bei Google direkt unter der bezahlten Werbung der großen Player zu stehen. Das gelingt uns durch Anwendung von KI immer besser.“
Besseres Ranking durch KI
Er habe sich von Anfang an sehr intensiv mit KI beschäftigt und festgestellt, dass der Algorithmus von Google & Co. die Unternehmen, die KI einsetzen, in der Suche deutlich weiter oben platziert. „Wir haben daraufhin in unseren Online-Shop eine einfache KI-Funktion eingebaut; damit konnte man sich die Seite vorlesen lassen. Das fand Google gut und hat uns nach oben geschoben“, erklärt von der Marwitz. Er achtet außerdem darauf, dass Blue Getränke das komplette Sortiment der Marken anbietet, von denen Flaschenpost und Rewe nur Teile des Portfolios liefern. Auch dadurch lande er oftmals direkt unter der bezahlten Google-Werbung von Rewe und Flaschenpost.
„Auch wenn jemand bei Google seine Hamburger-Postleitzahl eingibt und Flaschenpost liefert dort nicht hin, gewinnen wir meist einen neuen Kunden“, sagt von der Marwitz. Hinzu komme, dass er auch Gastronomie-Gebinde wie Fässer und Zapfanlagen anbiete. Laut dem Gründer verzeichnet Blue Getränke gute Umsatzzuwächse, weil der kleine Lieferdienst es schafft, bei Google stets in der Nähe von Flaschenpost und anderen Supermarkt-Lieferdiensten zu stehen. „Dadurch wirkt sich die Werbung der großen Player direkt auch auf unser Geschäft aus.“
Um seinen Service im Internet noch präsenter zu machen, lässt von der Marwitz inzwischen kurze Videos mit KI-generierten Liedern und Bildern erstellen. Enorme Aufmerksamkeit bekam Blue Getränke in Hamburg durch das letzte Lied von Werner Böhm alias Gottlieb Wendehals. Der Sänger und der Getränkehändler waren langjährige Freunde, Böhm sang noch kurz vor seinem Tod ein Werbelied für Blue Getränke ein, es wurde jedoch nicht mehr fertiggestellt. „Der Text ist von mir, die Musik hat Werner Böhm gemacht, zusammen haben wir das dann in einem Tonstudio arrangiert, und Werner hat das Stück eingesungen“, erzählt von der Marwitz.
Neue Kunden über Youtube gewinnen
Als er mithilfe einer KI das Lied kürzlich fertigstellte und veröffentlichte, sorgte das für hohe Aufmerksamkeit; viele Medien berichteten über den nun aufgetauchten letzten Song von Werner Böhm. Das Video zu dem Song wurde auf Youtube ein Hit, der Kanal von Blue Getränke gewinnt seitdem immer mehr Abonnenten. „Auch damit haben wir viele neue Kunden gewonnen“, so von der Marwitz. Die mangelhafte Betreuung für kleine Lieferdienste seitens der Hersteller erfordere eben eigene Initiativen, um im Netz bekannt zu werden.
Von der Marwitz wünscht sich dabei mehr Unterstützung durch die Getränkehersteller. Er bekomme bisher keine Markenfilme, die er in seine Videos einbauen könne, denn die Branche habe bislang noch keine geeigneten produziert. „Die Verantwortlichen sind teilweise älter als Google und sehen die Macht von KI noch nicht“, so von der Marwitz. Durch KI werde nun auch für kleine Unternehmen Werbung für eine größere Zielgruppe bezahlbar. „Wir haben nur gute Erfahrungen gemacht und Erfolge erzielt“, sagt von der Marwitz und möchte damit die anderen kleinen Lieferdienste ermutigen, ebenfalls mit Hilfe von KI zu werben, damit am Ende möglichst viele überleben können. „Wir kleinen bieten mehr als die großen Player. Wir beraten die Kunden, machen Kommissionsgeschäfte für Feiern sowie individuell angepassten Service beim Kunden.“ Das sei gerade für die ländlichen Gebiete sehr wichtig. „Denn was würden dort die vielen Vereine und die Feste ohne die kleinen Lieferdienste anfangen?“, so von der Marwitz.
Tatsache ist: Das Geschäft in den ländlichen Regionen kommt für die großen Lieferdienste nicht in Frage. Und auch die schnelle Lieferung steht in den Ballungsgebieten auf wackligen Beinen. Das Geschäft wuchs zwar innerhalb kürzester Zeit sehr schnell, verzeichnet aber nach wie vor enorme Verluste. Das Wachstum, das zu einem erheblichen Teil durch Risikokapitalgeber finanziert wurde, konnte nicht in Profite umgemünzt werden. Im Gegenteil: Bei den meisten Lieferdiensten wuchsen mit steigendem Umsatz auch die roten Zahlen. Das größte Problem bleibt vorerst die Auslieferung der Waren zum Verbraucher. Ob es den großen Playern jemals gelingt, die „letzte Meile“ kostendeckend umzusetzen, bleibt fraglich.