Seit Montag fließt kein Gas mehr aus Russland über die Ostseepipeline Nord Stream nach Deutschland. Ob Putin den Hahn nach den Wartungsarbeiten wieder aufdrehen lässt, ist fraglich. Ein Lieferstopp würde die Brauereien dramatisch treffen. Getränke News sprach mit Dr. Jörg Lehmann, Präsident des Deutschen Brauer-Bunds, über den Worst Case.
Getränke News: Deutschland bereitet sich auf einen Stopp der Gaslieferungen aus Russland vor. Wie stark ist die Brauwirtschaft auf Gas angewiesen?
Lehmann: Der Energieverbrauch in einer Brauerei setzt sich – grob gesagt – ungefähr zu einem Drittel aus Strom und zu zwei Dritteln aus Gas zusammen. Immer mehr Brauereien nutzen jedoch Blockheizkraftwerke zur Stromerzeugung, so dass bei einem Mangel an Gas auch kein eigenerzeugter Strom mehr zur Verfügung steht. Die deutsche Brauindustrie hat enorme Anstrengungen geleistet, um ihren Energieverbrauch immer weiter abzusenken. Manche nutzen Biogas oder Solarenergie, andere sogar Abwärme aus der Stahlindustrie. Aber ich sage es klar: Trotz ausgefeilter Nachhaltigkeitskonzepte und Millionen-Investitionen ist es gegenwärtig auch in unserer Branche unmöglich, Gas als Energieträger zu ersetzen. Zwar können manche Brauereien ihre Kessel im Notfall alternativ auch mit Öl betreiben, aber meist nur für kurze Zeit und zu immensen Kosten.
Getränke News: Mit anderen Worten: Ohne Gas kein Bier?
Lehmann: Bricht tatsächlich die Gasversorgung für die Lebensmittelindustrie zusammen, könnten Verbraucherinnen und Verbraucher innerhalb kürzester Zeit in Supermärkten und Getränkemärkten vor leeren Regalen stehen. Die Ernährungswirtschaft ist nach der chemischen Industrie die Branche mit dem zweitgrößten Gasverbrauch. Und sie ist zwingend angewiesen auf Vorlieferanten – in unserem Fall sind das zum Beispiel die Mälzereien, die Hopfenwirtschaft, die Produzenten für Glas, Dosen, Kartonagen und anderen Verpackungen. Jeder Betrieb, der unabhängig von Gas produzieren kann, muss befürchten, durch den drohenden Dominoeffekt an anderer Stelle nach kurzer Zeit in die Knie gezwungen zu werden.
Getränke News: Welche Signale bekommen Sie aus der Bundesregierung?
Lehmann: Ich denke, dass der Bundeswirtschaftsminister und die Bundesnetzagentur in dieser Krise klug und besonnen handeln, obwohl ihre Botschaft lautet: Eine generelle Priorisierung der Lebensmittelindustrie bei der Zuteilung von Gas sei nicht möglich, weil völlig unklar sei, wie sich die Lage im Herbst und Winter entwickeln werde. Mit dieser Unsicherheit müssen wir also leben. Natürlich haben wir als Verband gegenüber dem Bund deutlich gemacht, dass unsere Betriebe dringend Planbarkeit brauchen – für die Herstellung von Bier und alkoholfreien Getränken ebenso wie für die zahlreichen Blockheizkraftwerke in den Regionen zur Stromversorgung.
Getränke News: Was kann der Brauer-Bund in solch einer Krise für seine Mitglieder tun?
Lehmann: Der DBB als Spitzenverband der Brauwirtschaft hat seine Mitglieder frühzeitig mit Fachinformationen und Webinaren auf die drohende Gaskrise vorbereitet. Unser Hauptgeschäftsführer Holger Eichele hat mit den Kolleginnen und Kollegen eine Task Force etabliert, die das Krisenmanagement von Berlin aus bündelt und die Betriebe bei allen erdenklichen Fragestellungen berät. Dazu haben wir uns auch externe Hilfe geholt. Anders geht es nicht, denn die energierechtlichen und technischen Fragestellungen sind hoch komplex.
Getränke News: Müssen sich Verbraucher auf weiter steigende Bierpreise einstellen?
Lehmann: Kaum eine Frage wird uns zurzeit öfter gestellt. Tatsache ist: Jedes Unternehmen kalkuliert und entscheidet für sich. Aber wenn man sieht, dass wir bereits seit Beginn der Corona-Krise bei Rohstoffen, Verpackungen, Energie und Logistik nie gekannte Preiserhöhungen haben und jetzt die Kosten für Gas und Strom erneut durch die Decke schießen, dann ist wenig überraschend, wenn derart drastische Kostensteigerungen irgendwann auch auf den Bierpreis umgelegt werden.
Getränke News: Auch die Coronapandemie ist alles andere als vorbei. Wie sehen Sie da die weitere Entwicklung?
Lehmann: Wir bereiten uns natürlich auch hier auf alle denkbaren Szenarien vor. Aber ich persönlich bleibe Optimist und ich glaube, wir haben in den vergangenen Jahren gelernt, uns kurzfristig an die unterschiedlichsten Herausforderungen anzupassen. Dennoch appelliere ich an die Entscheidungsträger, wohlüberlegt und mit Weitblick mit dem richtigen Maß zu reagieren und keine Schnellschüsse zu machen. Wir alle zusammen sind in den vergangenen beiden Jahren etwas klüger geworden und haben im Umgang mit Covid gelernt, welche Instrumente wirksam sind – und welche offenbar mehr schaden als nutzen.