„Wir stehen vor einem Paradigmenwechsel im Marketing: Endlich bekommt der Konsument das Zepter in die Hand.“ Das stellt kein Geringerer fest als Thomas Koch, der als einer der profiliertesten Vordenker der deutschen Werbung gilt. Seit den 1970er Jahren ist er in der Branche aktiv und beobachtet Veränderungen aus nächster Nähe. Von Beginn der Digitalisierung an hätten Werber alle denkbaren Fehler gemacht – mit dem Ergebnis, dass heute „Menschen Werbung hassen wie nie zuvor“. Täglich würden sie zehntausendfach mit Botschaften „zugemüllt“, ohne dass deren Wirksamkeit wirklich bewiesen wäre. Nun aber, so Koch, definiere der Verbraucher selbst, welche Werbung für ihn überhaupt relevant sei.
Doch was ist es, das die Werbewelt derart auf den Kopf stellen soll? Es geht um den QR-Code, den seit einigen Jahren Hersteller von Konsumgütern auf ihre Verpackungen drucken und beispielsweise dazu einladen, Zutatenlisten einzusehen, Produktinfos nachzulesen oder an Gewinnspielen teilzunehmen, wie es etwa die Marke Bitburger anlässlich der Fußball-EM tat. Während der Pandemie wurde er einem breiten Publikum bekannt, als vielfach Speisekarten dem Restaurantgast nicht mehr als Mappe aus Kunststoff und Papier vorgelegt wurden, sondern eben als die kleine schwarz-weiße technische Grafik, die über Smartphone-Scan auf eine Internetseite führte.
Neue Codes mit Multifunktionen
Eine aktuelle digitale Entwicklung wird nun den Code auf ein neues Funktionsniveau heben: Ab 2028 soll der auf allen weltweit gehandelten Waren angebrachte EAN-Code durch den QR-Code ersetzt werden. Während der altbekannte Strichcode sich auf die Funktion konzentriert, den Artikel an der Kasse eindeutig zu identifizieren und zum Beispiel die korrekten Preise abzurufen, verbindet der QR-Code zusätzliche Informationen der Lieferkette, Mindesthaltbarkeitsdatum, Chargen und Seriennummern sowie beliebige andere Informationen, die das Kundenerlebnis erweitern. Er wird zum Vehikel für gezielte Werbebotschaften und damit zu einem Instrument, worüber Marken mit ihren Fans kommunizieren können.
Einer der Pioniere auf dem neuen Gebiet ist die 2020 gegründete Connect One Digital AG mit Sitz in Köln. Gemeinsam mit einem Kölner Start-up hat sie den QR-Code weiterentwickelt; die neue Technologie verknüpft beliebige physische Objekte wie Verpackungen, Plakate oder beispielsweise auch Markengläser mit frei wählbaren digitalen Inhalten, die jederzeit differenziert und geändert werden können. Die Möglichkeiten des neuen Codes gehen mit diesen erweiterten Funktionen grundlegend über die des klassischen QR-Codes hinaus.
Während Letzterer lediglich auf eine Webseite verlinkt, kommen die Verbraucher durch die Codes der neuen Generation zu wechselnden und dynamisch anpassbaren Inhalten wie etwa Texten, Fotos, Audio- oder Videodateien. Für das Marketing jedes Unternehmens entstehen damit ganz neue Werbe- und Kommunikationsmöglichkeiten. Neben Produktinformationen kann der Hersteller nun beispielsweise zusätzlich zu Gewinnspielen oder zum Punktesammeln einladen oder Rabatte anbieten. Ebenfalls neu: Es können auch verschiedene Absatzkanäle verknüpft werden.
Thomas Nieraad, einer der Gründer, erklärt die Möglichkeiten an einem Beispiel: Wenn etwa ein Biertrinker in einer Gaststätte sein Glas scannt, „merkt“ sich das sein Smartphone – allerdings ohne personenbezogene Daten. Nutzt der Kunde dann einen weiteren Code an einem anderen Customer Touch Point, werden zum Beispiel die erzielten Treuepunkte kanalübergreifend addiert. Mit diesen und ähnlichen Informationen können Kampagnen optimal auf Kunden zugeschnitten werden.
Täglich Milliarden von Kundenkontakten
„Es ist eine völlig neue Plattform“, schwärmt Nieraad. „Millionen von Verpackungen werden künftig zu Medien.“ Dass die Grundlage dafür geschaffen wird, dafür sorgt die Organisation GS1, die branchenübergreifend Standards entwickelt und bereitstellt; sie treibt die Verbreitung des QR-Codes weltweit mit Nachdruck voran – das resultiert in täglich zehn Milliarden Kundenkontakten. „Damit reicht es für den Erfolg einer Marke schon, wenn ein bis zwei Prozent der Konsumenten regelmäßig konnektieren“, so Nieraad.
„Fürs Marketing öffnen sich ganz neue Türen“, erläutert Werbefachmann Thomas Koch. „Verpackungen, die man täglich in der Hand hat, werden zu Medien, das ist wirklich aufregend für die Zukunft.“ Werbung werde damit deutlich wirkungsvoller, glaubt der Experte: Bisher würden Marketingleute, nach dem Push-Prinzip, zuhauf Botschaften in die Welt „hinausblasen“, ohne dass man wirklich messen könne, ob sie die Konsumenten überhaupt interessieren. Aller Marktforschung zum Trotz seien viele Erkenntnisse „theoretische Wahrheiten“ geblieben, die vielfach geforderte Kundenorientierung sei nie umgesetzt worden.
Streuverluste weitgehend ausgeschlossen
Da die Nutzer des neuen Codes bei näherer Interaktion mit ihrer Marke der Verwendung ihrer Daten nun ausdrücklich zustimmen müssen, gebe es jetzt „statt vieler Spekulationen eine wirkliche Rückkopplung“, Streuverluste könnten – anders als zum Beispiel bei TV-Werbung – praktisch ausgeschlossen werden, da die Marke ja immer in eine direkte Kommunikation mit ihrem Konsumenten tritt.
Im Management zweifelt man nicht daran, dass Verbraucher die Möglichkeiten künftig immer umfangreicher nutzen werden. Spätestens, seit kein spezieller QR-Code-Reader mehr gebraucht wird, da die Kameras moderner Smartphones jedes der oft noch schwarz-weißen Quadrate mühelos lesen können, ist der QR-Code in weiten Teilen der Gesellschaft angekommen, ist Gründer Michael Buck überzeugt. Mit wachsender Präsenz der Codes auf den Waren werde die Scan-Bereitschaft noch weiterwachsen, gerade in der jüngeren Generation.
Immer mehr Anreize zum Scannen
Um die Codes aber noch attraktiver zu machen, arbeitet das Unternehmen auch daran, sie ästhetisch weiterzuentwickeln. So müssen heute QR-Codes keine schwarz-weißen Quadrate mehr sein, sondern können sich – etwa mit Markenlogo oder auffälligen farbigen Bildern nebst einer Aufforderung zum Scannen („Call to action“) versehen – prominent auf dem Frontetikett präsentieren. Dennoch bleiben sie problemlos scanbar, sogar, wenn die sogenannten „Augen“, die großen runden Symbole in den Ecken der Codes, wegfallen.
„Der Code muss sich nicht mehr verstecken“, unterstreicht Michael Buck, der sich mit den technologischen Grundlagen und Weiterentwicklungen beschäftigt. Sogar Bilder, die optisch gar nicht als QR-Codes erkennbar sind, oder animierte Codes, die sich zum Beispiel als Teil einer TV-Werbung drehen, können problemlos gescannt werden. Für Verbraucher entstehen so immer mehr Anreize, über ihre Smartphones mit Marken in Kommunikation zu treten.
Das größte Problem liegt allerdings weniger beim Adressaten, sondern vielmehr beim Absender: Viele Marken tun sich aktuell noch schwer mit passenden Inhalten, räumt Buck ein. Es zeige sich immer wieder, dass viele Marken noch nicht ausreichend mit Werten aufgeladen seien. Sie müssten sich dringend die Frage stellen: Wer bin ich, und was wollen die Menschen von mir? Das heißt, im Falle der QR-Codes müssen sich Marken jeden Kontakt hart verdienen. Das Potenzial, das in dem neuen Medium steckt, scheinen viele Marketingleute noch nicht erkannt zu haben. Das könnte sich aber bald ändern.