Deutschlands größte Braugruppe steht unter Druck. Die Radeberger Gruppe ist mit den gleichen Herausforderungen konfrontiert wie kleinere Brauereien. Angesichts stagnierender Absatzzahlen sind klassische Wachstumschancen kaum noch vorhanden. Gleichzeitig stößt das breit gefächerte Markenportfolio, das stark auf regionale Märkte ausgerichtet ist, zunehmend an seine Grenzen. Die einzige Stellschraube bleibt das Sparpotenzial: Jüngster Schritt ist die geplante Einführung dreier Logistik-Drehkreuze, mit denen das Unternehmen Effizienzgewinne realisieren will (wir berichteten).
Die Übernahme von Brau und Brunnen
Wenn zwei Schwache sich zusammentun, gibt es noch lange keinen Starken. Dieses Sprichwort sollte vor zwei Jahrzehnten bittere Wahrheit werden, als Oetkers Biersparte den angeschlagenen Konzern Brau und Brunnen AG übernahm. Es war bis heute die erste und letzte Chance, durch Zukauf signifikante Marktanteile zu erringen und dem Ruf der Oetker-Gesellschafter nach Marktführungsstatus im Biergeschäft nachzukommen. Die einstige Binding- und spätere Radeberger-Gruppe mit ihren Standorten in Frankfurt, Köln, Dortmund und Düsseldorf und der Premium-Marke Radeberger im Gepäck erreichte 2004 einen Umsatz von rund 800 Millionen Euro und einen Absatz von 7,6 Millionen Hektolitern. Brau und Brunnen kam auf 6,6 Millionen Hektoliter und 700 Millionen Euro Umsatz.
Der inzwischen verstorbene Stefan Schörghuber hatte zuvor ernsthaftes Interesse an einer Fusion bekundet, aber angesichts der wirtschaftlich unwägbaren Verfassung von Brau und Brunnen abgewunken. Dann wagte sich Ulrich Kallmeyer, damals Chef der Oetker-Biersparte, aus der Reserve und machte schließlich den Deal perfekt. Heute weiß die Brauwirtschaft, wie tief das Tal der Tränen bei den Oetker-Gesellschaftern lange Zeit gewesen sein muss.
Mister 20 Prozent
Allzu verführerisch war die Macht der Größe, der Ulrich Kallmeyer an der Vorstandsspitze offenbar erlegen war. Selbst nach dem großen Deal wurde er nicht müde, Brauer medienwirksam zu Verkäufen zu motivieren. Immer wieder wurde sein Ziel von 20 Prozent Marktanteil zitiert. Kein Wunder, dass ihm das alsbald den Spitznamen „Mister 20 Prozent“ einbrachte. Zwei Jahrzehnte später weiß man, wie vergeblich die Großmachtdenke des einstigen Gruppenvorstands war.
Wie steinig der Weg der Integration von Brau und Brunnen in die Oetker-Welt war, davon dürfte Dr. Niels Lorenz ein Lied singen können. Der damals gerade 33 Jahre alte Diplomkaufmann wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2005 in den Vorstand von Brau und Brunnen berufen und war für die Bereiche Finanzen und Logistik zuständig. Er war zuvor Gründungsgesellschafter und Partner bei der ifas independent financial advisory services AG in Hamburg gewesen und setzte mit seinem Eintritt in den Vorstand der Brau und Brunnen auf die Oetker-Karte. Sein Einsatz sollte sich lohnen.
Neuausrichtung der Gruppe
Die Baustelle, die Dr. Niels Lorenz vorfand, war immens: Nach der Übernahme von Brau und Brunnen gab es Doppelstandorte in Dortmund und Berlin, wo Oetker quasi über Nacht zum alleinigen Biermarktgestalter wurde, dafür aber reichlich Überkapazitäten zu bewältigen hatte. Hinzu kamen zwei parallel arbeitende Vertriebsorganisationen und reichlich Verwaltungsapparate an den zu Brau und Brunnen-Zeiten kunterbunt zusammengekauften Braustätten.
Heute weiß man, dass die mühsame Aufbauarbeit von Dr. Niels Lorenz und seines ihn später stets begleitenden Buchhalters Christian Schütz für sie nicht umsonst gewesen ist. Beide stiegen in der Führung der Radeberger Gruppe auf, Lorenz dirigiert heute als Gruppenbeirat die viele Jahre expansionshungrige Biersparte mit ihren Beteiligungen wechselweise von Frankfurt und Bielefeld aus. Der ganz im Oetker-Sinne vornehmlich leise Christian Schütz erweist sich seither als Mann für alle Fälle. Er war zwischenzeitlich Geschäftsführer der Bionade GmbH, bis er 2014 als kaufmännischer Geschäftsführer in die Geschäftsführung der Radeberger Gruppe KG wechselte. Heute kümmert er sich um die Finanzen und schaut als Beirat und Aufsichtsrat der Beteiligungen gern genauer hin.
Überflüssige Standorte geschleift
Die Radeberger Gruppe ist – ganz gleich ob horizontal oder vertikal – umtriebig geblieben. Doch Größe allein genügt nicht. Die Bilanz fällt gut zwei Jahrzehnte nach der wohl spektakulärsten Brauereifusion eher dürftig aus. Oetkers Biersparte warf mächtige Hektolitermengen über Bord. Der Ausstoß der verbliebenen Standorte ist in dieser Zeit von über 14 Millionen Hektolitern Gruppenausstoß auf rund 10 Millionen Hektoliter geschrumpft.
Dabei wurden Standorte immer wieder rigoros geschleift. So in Dortmund, wo die Brinkhoff’s Brauerei in Lütgendortmund quasi zwangsentkernt wurde und sich heute alle Brauaktivitäten auf den Standort der ehemaligen Hansabrauerei an der Steigerstraße konzentrieren. Von 7,5 Millionen Hektolitern Ausstoß in den Siebzigerjahren, als sich Dortmund noch als Biermetropole Europas rühmte, ist nicht einmal ein Drittel der Braumenge geblieben. In Berlin wurde die Braustätte in Neukölln ein Braudenkmal, die fusionierte Berliner-Kindl-Schultheiss-Brauerei bündelte alle Aktivitäten an der Indira-Gandhi-Straße.
Die Kritik an mangelndem Traditionsbewusstsein verstummte bei jeder Schließung schnell und geriet in Vergessenheit. Wenn das Management um Ulrich Kallmeyer (2000-2009), Dr. Albert Christmann (2009-2013), Dr. Erlfried Baatz (2013), Dr. Niels Lorenz (2013-2020) und Guido Mockel (seit 2020) die eigene Gruppe restrukturierte, dann mit aller Konsequenz und buchstäblich ohne Rücksicht auf Verluste. Überkapazitäten, die vielen deutschen Brauern noch heute Probleme bereiten, wurden abgeschnitten. Zuletzt wurde im Juni 2023 der letzte Sud in der Binding-Brauerei gebraut und die große Geschichte der einst führenden Großbrauer Henninger und Binding für alle Zeit beendet.
Verwaltung ohne Brauerei
Unterdessen wird gemutmaßt, wie lange sich Oetkers Biersparte den vergleichsweise neuen Verwaltungssitz in der Mainmetropole noch leisten möchte. Unter den großen Brauereien ist es – seit der Schließung von Binding – die einzige administrative Spitze, die ohne jede Brauereianbindung auskommen muss. Gebraut werden die angestammten Frankfurter Marken, wenn auch mit sehr überschaubarem Volumen, seither am Tucher-Standort an der Stadtgrenze von Nürnberg-Fürth. Zuvor war bereits dem einstigen Kölner Verbund sein letzter Braustandort genommen worden. Inzwischen kommt das Kölsch der Marken Sester, Sion, Peters, Küppers, Gilden und Dom aus den Sudkesseln der Früh-Brauerei.
Das Dilemma der Radeberger Gruppe liegt in der Zweiteilung ihrer Markenwelten. Auf der einen Seite verfügt Deutschlands größte Gruppe über einen veritablen Marktanteil. Dieser wird aber vor allem durch regionale Sortimente gestützt. Es ist schon bedenklich, wenn es Oetkers Biersparte in der eigenen Konzernheimat Nordrhein-Westfalen nicht einmal gelingt, eine ihrer dort gebrauten Marken unter den Top 10 im Handel zu platzieren.
Mit einem Marktanteil von 1,7 Prozent bleibt Brinkhoff’s No. 1 nur Platz 12. Im bevölkerungsstärksten Bundesland, genau dort, wo die Schlacht um Marktanteile und Marktbedeutung geschlagen wird, besitzt die Radeberger Gruppe allenfalls Randbedeutung. Von sichtbaren Verkaufsimpulsen neuer Produkte ganz zu schweigen. Erst 2023 launchte die Radeberger Gruppe mit „Cyberz“ eine neue Biermix-Marke. Über den Start der zwei Geschmacksrichtungen „Cyberz Limez“ und „Cyberz Berryz“ sollte das Produkt nicht hinauskommen, nachdem die hohe Preispositionierung und mangelnde Kommunikation die junge Markenfamilie eher in die Nähe eines in der Brauwirtschaft durchaus häufigen Produktflops rückte.
Drei strategische Marken
Radeberger Pilsener, Jever und Schöfferhofer Weizen werden heute vom Unternehmen als die drei strategischen Marken ausgerufen. Während das Segment der Hellen und alkoholfreien Biere wächst, versucht die Radeberger Gruppe notdürftig nachzujustieren. Das Oberdorfer soll dem Mainstream der Verbraucherwünsche nach einem Hellen entsprechen; der ehemalige Marktführer und Alkoholfrei-Wegbereiter Clausthaler wird inzwischen von Jever Fun Alkoholfrei verdrängt. Keine Frage, der Vertriebskoffer des Key-Accounts-Managements ist voll – vielleicht zu voll, um viele Produkte zum Erfolg zu führen.
Dafür hält die Radeberger Gruppe die Fäden des ostdeutschen Biermarktes sicher in den Händen. Der Traditionalist Radeberger Pilsener zählt in Sachsen ebenso dazu wie das kultige Sternburg („Sterni“) oder der Volumenbringer Ur-Krostitzer und Regionalakteur Freiberger. Alle sächsischen Marken genießen – anders als in den alten Bundesländern – im Osten eine hohe Reputation. Gleiches gilt selbstverständlich für die Berliner Marken.
Doch nicht alles läuft so geräuschlos wie das Ost-Business. So währte das Engagement beim einstigen Trendgetränk Bionade erstaunlich kurz, die Marke wurde kurzerhand verkauft, weil sie durch ihre vorherigen Gesellschafter bereits Schaden erlitten hatte. Radeberger trennte sich 2017 und damit acht Jahre nach dem Einstieg endgültig von der Öko-Limo und verkaufte sie an den Mineralbrunnenbetrieb Hassia in Bad Vilbel.
Beteiligung in der Getränke-Logistik
Die Strategie von Dr. Niels Lorenz ist heute gut sichtbar und hat zuweilen sehr kostspielige Spuren hinterlassen. Marktverankerung wird offensichtlich über die gesamte Wertschöpfungskette der Getränkewirtschaft angestrebt. Das größte und erfolgreichste Engagement ist zweifellos im Joint-Venture von Radeberger Gruppe und Brauerei Veltins zu finden. Mit der markenneutralen Deutschen Getränke-Logistik (DGL) schaffen die beiden Brauerei-Partner elementaren Nutzwert, um das Mehrwegvolumen im Sinne des Handels zu bewegen. Die DGL hat sich längst aufgemacht, den größten Streckenlogistiker Trinks zu überholen. Deren Gesellschafter Krombacher, Warsteiner und Bitburger ließen eine 50-Prozent-Rewe-Beteiligung zu und verabschiedeten sich vom ehernen GFGH-Prinzip der Markenneutralität.
Wie die anderen großen Brauer auch, versucht die Radeberger Gruppe mit Beteiligungen im gastronomisch aktiven Getränkefachgroßhandel ihr Gastronomiegeschäft stabil zu halten. Die Liste der Drinkport-Aktivitäten ist lang: ESG Getränke GmbH (Kabelsketal), HFS Getränke GmbH (Radebeul), Getränke Preuss-Münchhagen GmbH (Berlin), und SLH Getränke GmbH (Senftenberg) zählen ebenso dazu wie Getränke Weidlich GmbH (Dortmund), Otto Pachmayr GmbH & Co. Mineralwasser KG (Oberhaching), Löffelsend & Wein Compagny GmbH (Potsdam-Drewitz) und Wigem Getränke GmbH (Bischofsheim).
Eintritt ins Bringdienst-Business
Derweil hat der Oetker-Konzern 2020 mit dem Kauf des Bringdienstes Flaschenpost einen mächtigen Schluck aus der Pulle genommen. Der Kaufpreis – eine hohe dreistellige Millionensumme wird kolportiert – hat die Gründer des einstigen Start-ups reich gemacht. Viel zu viel für ein Geschäftsmodell, das aus einer App, angemieteten Lagerhallen und einer geleasten Transporterflotte besteht, wie Experten meinen. Flaschenpost galt zwar lange Zeit als unumstrittenes Erfolgsmodell, kommt aber nach Einschätzung von Branchenkennern kaum aus den roten Zahlen heraus. Auch die Ausweitung der Angebotspalette will bis heute nicht so recht zünden. Der Brückenschlag von Flaschenpost vom national agierenden Getränkelieferdienst zum Rundum-Versorger gestaltet sich langwieriger und schwieriger als die Bielefelder Strategen gehofft haben dürften.
Der Oetker-eigene Bringdienst Durstexpress wurde in Folge der Zusammenführung beider Lieferdienste dem Flaschenpost-Kauf geopfert und ging im gemeinsamen Handelsuniversum auf. Demgegenüber ist das Geschäfts des Getränkefachmarktanbieters Getränke Hoffmann zwar weit von einer Gelddruckmaschine entfernt, schafft bei bescheidenen Erträgen aber Woche für Woche die Möglichkeit, Produkte aus dem eigenen Haus preisattraktiv ins Schaufenster zu stellen.
Einsparpotenzial durch „strategisches Drehkreuz“
Die Optimierung und damit Kostensenkung im eigenen Haus trägt in der Logistikkonzentration bereits Früchte. Die Radeberger Gruppe verlagert ihre nationale Abholrampe im Süden der Republik zum Jahreswechsel 2025/26 vom hessischen Bischofsheim an den fränkischen Standort der Tucher Privatbrauerei in Nürnberg/Fürth. Dieser solle enger mit den Strukturen der Gruppe vernetzt und zu einem „strategischen Drehkreuz“ ausgebaut werden, teilt das Unternehmen mit. Insbesondere die in den südlichen Bundesländern ansässigen Kunden sollen so einen vereinfachten Zugang zu den Produkten der Radeberger Gruppe erhalten. Zudem würden Doppelaufstellungen minimiert und die Aktivitäten effizienter ausgerichtet. Nach der Umstellung wird die Radeberger Gruppe die drei nationalen Abholrampen Berlin (Ost), Dortmund (Nord-West) und Nürnberg/Fürth (Süd-Ost) unterhalten, zudem die weiterhin unterstützend tätigen regionalen Rampen.
Fazit – Fortschritt durch werthaltige Marken
Oetkers Biersparte tritt seit Jahren auf der Stelle – stabiles Wachstum: Fehlanzeige. Das dürfte sich angesichts mangelnder Markenstärke im Gesamtsortiment in Zukunft nicht ändern. Stattdessen arbeitet die Radeberger Gruppe weiter an der Effizienz. Immer wieder neu ausgerufene Einsparrunden dürften den Technikern an den Standorten inzwischen Sorgenfalten bereiten. Da hilft nur der Mut nach vorn: Neue Produkte und Ideen müssen her. Doch die erfordern Investitionen mit unwägbarem ROI. Letztlich wissen es die Verantwortlichen nur allzu genau: Die Wertschöpfung findet in der Getränkewirtschaft in der Herstellung von werthaltigen Produktmarken und nicht in der Dienstleistung statt.
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