Die Logistikbranche steht vor tiefgreifenden Veränderungen. Prof. Dr. Christoph Tripp, Experte für Distributions- und Handelslogistik, erklärt im Interview mit Getränke News, welche Hebel für eine nachhaltigere und effizientere Logistik entscheidend sind, welche Rolle die Digitalisierung dabei spielt und warum immer mehr Unternehmen eigene Logistik-Ressourcen aufbauen.
Getränke News: In vielen Bereichen gibt es eine Diskrepanz zwischen der Haltung der Kunden und ihrem tatsächlichen Handeln – besonders beim Thema Nachhaltigkeit. Wie wirkt sich das auf die Getränkelogistik aus, und welche Maßnahmen sind erforderlich, um nachhaltige Konzepte wirtschaftlich tragfähig zu machen?
Tripp: Tatsache ist: Kunden wollen nachhaltig produzierte Produkte, sind aber kaum bereit, einen Aufschlag für Nachhaltigkeit zu bezahlen. Für die Getränkelogistik bedeutet das: Investitionen in nachhaltige Konzepte sind notwendig, aber die Effekte müssen für Kunden auch sicht- und spürbarbar sein.
Ich bin davon überzeugt, dass eine artikelbezogene Berechnung und Ausweisung des CO2-Fußabdrucks eines einzelnen Produktes perspektivisch kommen und damit bei der Kaufentscheidung der Verbraucher eine Rolle spielen wird. Als Logistiker in der Getränkebranche sollte man sich darauf schnellstmöglich vorbereiten und in der Lage sein, den logistikbezogenen Teil des CO2-Fußabdrucks auf Basis von Echtdaten eigener und fremder Kapazitäten quantifizieren zu können.
Getränke News: Was sind die größten Stellschrauben zur Emissionsreduzierung in der Getränkelogistik?
Tripp: Rund 22 Prozent der CO2-Emissionen in Deutschland entfallen auf den Verkehr, davon sieben bis acht Prozent auf Gütertransporte. 80 Prozent dieser Emissionen stammen von Lkws über 3,5 Tonnen. Um hier Emissionen zu reduzieren, gibt es – neben der Umstellung des Fuhrparks auf Elektro- oder Wasserstofffahrzeuge – die Möglichkeit, die Fahrer für ein ökologisches Fahrverhalten zu sensibilisieren und dieses auch mit Prämien zu belohnen. Außerdem können Logistikzentren energieautark oder sogar energiepositiv betrieben werden. Ein weiterer wichtiger Punkt wäre die Reduzierung der Gebindevielfalt.
Getränke News: Sie sprechen in Ihren Vorträgen von „Ökointelligenz“. Was verstehen Sie darunter?
Tripp: Auf einer strategischen Ebene ist es von hoher Bedeutung, dass ökologische Effekte bei jeder unternehmerischen Entscheidung berücksichtigt werden. Ein praxiserprobter Ansatz ist z.B. die Integration des aktuellen und zukünftigen CO2-Preises als Korrekturfaktor in Investitionsrechnungen. Diese von Trendforschern als „Ökointelligenz“ bezeichnete Fähigkeit sollte auch in die Getränkeindustrie verstärkt Eingang finden.
Getränke News: Welche Rolle spielt dabei die Digitalisierung?
Tripp: Digitalisierung ist essenziell, um Nachhaltigkeit messbar zu machen. Ohne Echtzeitdaten lässt sich der CO2-Fußabdruck von Transporten nicht erfassen oder reduzieren. Kleine und mittelständische Unternehmen treiben oftmals die Digitalisierung und damit das Thema Nachhaltigkeit schneller voran als große Konzerne. Peter Müller-Kronberg, Geschäftsführer der Zufall Logistics Group, hat einmal gesagt. „Wir wollen, dass unsere Logistik enkeltauglich ist.“ Diese Aussage bringt es auf den Punkt und sollte das Ziel sein. Klar ist aber auch: Ohne Digitalisierung werden wir das nicht schaffen.
Getränke News: Eigenregie oder Logistikdienstleister: Gibt es hier neue Entwicklungen?
Tripp: Grundsätzlich sorgen die aktuellen Megatrends Resilienz, ökologische Nachhaltigkeit und Digitalisierung dafür, dass Unternehmen wieder verstärkt über den Aufbau eigener Logistik-Ressourcen in Erwägung ziehen bzw. entsprechende Make-Strategien umsetzen. Hintergrund dieser Entwicklung ist zum einen die Absicherung der Lieferfähigkeit, die vor allem während der Corona-Pandemie und durch die Havarie der Ever Given im Suez-Kanal gelitten hat.
Die Schwarz-Gruppe hat als Reaktion auf diese erheblichen Kapazitätsengpässe, verbunden mit extremen Steigerungen der Frachtraten, unmittelbar reagiert und sich u.a. über Beteiligungen an der Spedition Gartner und dem Kombiverkehrs-Terminal in Graz, sowie der Gründung einer eigenen Reederei und eines eigenen KV-Operateurs, in der Beschaffungslogistik unabhängiger aufgestellt.
Getränke News: Sind also die Motivationen für einen Ausbau der eigenen Logistik die Gewinnung von Kontrolle?
Tripp: Kontrolle und Gestaltungsmacht. Hinzu kommen der Durchgriff auf Prozesse, Strukturen und Kosten sowie die Möglichkeit, technologische und prozessuale Veränderungen mit hoher Geschwindigkeit umzusetzen. Die Beteiligung von Rewe an Trink‘s folgt einem ähnlichen Muster. Grundsätzlich sind solche Make-Strategien im Handel aber nicht neu. Seit vielen Jahren bauen Walmart, Amazon, Alibaba und viele weitere Händler ihre Ökosysteme aus, in denen Logistikdienstleistungen eine wichtige Rolle spielen. Nachteilig bei derartigen Strategien ist das steigende Kapazitätsauslastungs- und Kostenrisiko, dem die Händler mit einer Öffnung ihrer Logistiknetzwerke begegnen.
Getränke News: Wie bewerten Sie die Logistik der Getränkebranche im Vergleich zu anderen Branchen?
Tripp: Aus externer Perspektive ist die Getränkebranche bislang stark auf die klassischen logistischen Funktionen wie Transport, Umschlag und Lagerhaltung fokussiert. Zwar hat die Branche die Relevanz der Logistik als Erfolgsfaktor erkannt, doch in vielen Bereichen müsste sie noch stärker in die Geschäftsmodelle integriert werden.
Ein Beispiel aus einer anderen Branche zeigt, was möglich wäre: Ikea setzt konsequent auf ein logistisch optimiertes Geschäftsmodell – von der Verpackung bis zur Transportauslastung. Oder denken Sie an den Lebensmittel-Lieferdienst Picnic, der die logistischen Machbarkeiten ins Zentrum seiner Expansionsstrategie setzt.
Eine ähnliche Denkweise würde der Getränkebranche möglicherweise guttun, denn die überbordende Variantenvielfalt erreicht möglicherweise einen kritischen Kipp-Punkt. Insofern wäre es geboten, das Kräfteverhältnis zwischen Marketing und Logistik – zumindest in Richtung Gleichgewichtung – neu auszutarieren.
Den ersten Teil des Interviews, in dem es um Resilienz, Nachhaltigkeit, Künstliche Intelligenz geht, lesen Sie hier.
Mehr zur Getränkelogistik der Zukunft?
Am 4. September hält Prof. Dr. Christoph Tripp auf dem SideKick-Kongress von Getränke News einen spannenden Vortrag über die Zukunft der Getränkelogistik und welche Weichen die Unternehmen stellen müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
Weitere Themen des Kongresses sind u.a.: Die Zukunft des Außer-Haus-Marktes, der LEH im Wandel und die Transformation der Brauwirtschaft.
Infos und Anmeldung unter: www.sidekick-kongress.de