Der Bierabsatz sinkt, alkoholfreie Varianten boomen – doch hinter dieser Entwicklung steckt mehr als nur ein Trend zu gesünderem Leben. Dr. Uwe Lebok, Marktforscher und Markenexperte bei K&A Brand Research, spricht im Interview über den gesellschaftlichen Wandel im Umgang mit Alkohol, die besonderen Erwartungen der Gen Z und darüber, warum Marken heute nicht mehr auf Konsumenten warten dürfen – sondern zu ihnen gehen müssen.
Getränke News: Der Bierkonsum sinkt seit Jahren, alkoholfreie Varianten legen zu. Ist das ein Ausdruck von Gesundheitsbewusstsein – oder steckt mehr dahinter?
Lebok: Insbesondere in jüngeren Generationen ist ein stärkerer Drang zur Selbstoptimierung zu beobachten. Nicht zwingend im Sinne eines radikalen Gesundheitskults, aber doch mit dem Anspruch, gesünder zu leben. Dieser Trend färbt inzwischen auch auf ältere Jahrgänge ab. Gleichzeitig sehen wir in unserer Forschung immer wieder: Obwohl viele gern gesünder leben würden, hinkt das tatsächliche Verhalten oft hinterher.
Getränke News: Ist es leichter auf alkoholfreies Bier umzusteigen als auf Zucker zu verzichten?
Lebok: Ja, eindeutig. Alkoholfreie Biere bieten mittlerweile vollen Genuss – nur eben ohne den spürbaren Effekt des Alkohols. Genau das entspricht den Erwartungen vieler Konsumenten heute. Bei Zucker ist der Verzicht deutlich schwieriger: Ein Stück Kuchen oder Schokolade ohne Zucker verliert oft deutlich an Genussqualität. Außerdem steht Alkohol inzwischen wesentlich stärker im Fokus öffentlicher Kritik als Zucker – das motiviert viele, auf alkoholfreie Alternativen umzusteigen.
Getränke News: Inwiefern wirken sich die veränderten gesellschaftlichen Strukturen und das soziale Miteinander auf den Bierabsatz aus?
Lebok: Der rückläufige Bierabsatz ist eng mit dem Wandel gesellschaftlicher Strukturen verknüpft. Die klassischen Anlässe, bei denen früher regelmäßig Bier getrunken wurde – vom Stammtisch bis zur Vereinsfeier – verschwinden zunehmend. Menschen treffen sich seltener, das soziale Miteinander hat sich verändert, und damit auch der Konsum. Hinzu kommt: In vielen urbanen Räumen liegt bei den U40 der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund bei rund 40 Prozent. Auch das prägt neue Konsumgewohnheiten, in denen Bier oft eine geringere Rolle spielt.
Getränke News: Wenn traditionelle Trinkanlässe wegfallen und sich das soziale Miteinander verändert – erleben wir dann nur einen Konsumrückgang oder bereits einen tiefgreifenden kulturellen Wandel im Umgang mit Alkohol?
Lebok: Es ist ein fundamentaler gesellschaftlicher Wandel. Alkoholische Getränke haben es zunehmend schwer. Das spüren aktuell neben den Brauern auch verstärkt die Winzer. Früher wurde beinahe täglich Alkohol getrunken – denken wir nur an das Ritual des Feierabendbieres. Die Menschen erlebten in ihrem sozialen Umfeld den täglichen Alkoholkonsum als selbstverständlich. Das ist heute nicht mehr so und lässt sich auch nicht mehr umkehren. Tatsache ist: Der Pro-Kopf-Verbrauch von Alkohol wird weiter sinken, die Absätze werden weiter zurückgehen. Darauf müssen sich die Brauer einstellen.
Getränke News: Welche Rolle spielt für die junge Zielgruppe beim Bier das Thema Regionalität?
Lebok: Regionalität ist ein starkes Thema – auch wenn jüngere Generationen Dialekte verlernen und weniger festen Bezug zu ihrer Herkunftsregion haben. Für die Gen Z ist sowohl Teisendorf als auch der Taj Mahal „regional“ – Hauptsache: authentisch. Marken wie Paulaner, Augustiner, Flens oder Störtebeker werden ebenfalls als regional wahrgenommen – allerdings in weiter gefasstem Sinn. Das zeigt: Verschiedene Marken können regional wirken, wenn sie nahbar und glaubwürdig auftreten.
Getränke News: Die Gen Z trinkt vermehrt milde Biere. Welche Bierstile könnten künftig besonders gefragt sein?
Lebok: Leicht zugängliche Lagerbiere mit hoher „Drinkability“ sind vielversprechend – gerne mit Kräuternoten, die an den Trend rund um Kräutertees anschließen. Allerdings steht beim Brauen mit Kräutern das Reinheitsgebot ein Stück weit im Weg.
Getränke News: Spielt das Reinheitsgebot für die Verbraucher noch eine Rolle?
Lebok: Ich persönlich halte viel vom Reinheitsgebot, aber es wird von den Verbrauchern nicht als Mehrwert verstanden. Für viele zählt vor allem eines: natürliche Zutaten, keine Chemie. Ob das nun Hopfen, Kräuter oder andere Ingredients sind, ist zweitrangig.
Getränke News: Was muss eine Marke heute leisten, um sowohl Babyboomer als auch Gen Z zu erreichen?
Lebok: Begeisterung erzeugen – das ist der Schlüssel. Marken müssen kontinuierlich Wow-Effekte liefern. Einige große Marken machen das auch im Bierbereich sehr gut, doch bei den meisten sehe ich noch Nachholbedarf. Die Babyboomer sind stark von Routinen geprägt, aber nicht unansprechbar. Die junge Generation hingegen reagiert auf kreative Impulse: Denken wir an Eistee-Marken mit fantasievollen Etiketten, Influencern und klarem Zielgruppenfokus. Nicht nur die Großen, auch kleinere Brauereien wie beispielsweise die Westerwald Brauerei, Glaabs Bräu oder Giesinger Bräu, zeigen, wie es gehen kann – lokal, kreativ, nahbar. Auch Brlo beweist: Mit einem klugen Konzept kann man selbst als Newcomer erfolgreich Fuß fassen.
Getränke News: Die Gen Z ist mit Influencern aufgewachsen. Bleibt diese Art der Kommunikation relevant?
Lebok: Absolut. TV oder Printmagazine sind nicht wirklich Alternativen. Influencer sind ein zentraler Touchpoint für die junge Generation. Doch mit der Zunahme von KI-basierten Algorithmen wird es auch immer schwerer, neue Zielgruppen mit Influencern außerhalb der individuellen Bubble organisch zu erreichen. Umso wichtiger ist es für Brauer, hybrid zu denken und kreative Wege zu gehen.
Getränke News: Wie gelingt es Marken, im Alltag präsent zu sein – ohne aufdringlich zu wirken?
Lebok: Das Stichwort lautet: Kontextbezug. Standardanlässe lassen sich geschickt nutzen, wenn man sie mit einem gewissen Überraschungsmoment inszeniert. Wichtig dabei ist, aus der Sicht des Verbrauchers zu denken – nicht aus der eigenen Markenlogik heraus.
Getränke News: Welche Entwicklungen muss die Getränkebranche in den nächsten fünf Jahren ernst nehmen, um wirtschaftlich und kulturell relevant zu bleiben?
Lebok: Erstens: Es geht ums wirtschaftliche Überleben – „Survival of the Fittest“. Nur wer sich konsequent an Konsumentenbedürfnissen orientiert, wird bestehen. Zweitens: Alkoholfreie Erfrischungsgetränke werden weiter wachsen – vorausgesetzt, sie passen zur Marke und sind relevant. Drittens: Marken müssen wieder „sprechen lernen“ und aus dem Alltag der Konsumenten her agieren. Sie sollten sich bewusst gegen den Trend zur gestalterischen Beliebigkeit im Getränkemarkt stellen. Vielerorts wirken Getränkemärkte wie gestalterische Toteiswüsten: unattraktive Warenpräsentation, keine Impulse, keine Inspiration. Warum sollte ein junger Mensch aus der Gen Z heute so einen Ort mit Freude aufsuchen?
Getränke News: Warum gelingt es dem Getränkefachhandel kaum, Begeisterung für Marken zu wecken – insbesondere bei der Generation Z?
Lebok: Getränkemärkte fungieren häufig lediglich als neutrale Getränkelieferanten – austauschbar, ohne Markenbindung, ohne Erlebnis. Es gibt zwar einige positive Ausnahmen, doch vielerorts agieren sie wie „Getränke-Dealer“, die wenig bis nichts zur Markenbildung beitragen. Die Ware steht da, aber niemand vermittelt, wofür eine Marke steht, was sie besonders macht oder warum sich der Kauf lohnt. Es fehlt meistens an Atmosphäre, an Ansprache, an Begeisterung. So entsteht kein Markenerlebnis – und gerade für die jüngere Generation ist das ein entscheidender Faktor.
Getränke News: Wenn Marken im Handel kaum noch erlebbar sind – wo und wie kann dann überhaupt noch Begeisterung entstehen?
Lebok: Marken brauchen neue Anlässe – und eine neue Bierkultur. Vor allem Brauereien müssen lernen, in eine „Geh“-Struktur zu wechseln, statt in der gewohnten „Komm“-Struktur zu verharren. Es reicht nicht mehr zu sagen: „Komm zu mir in die Brauerei.“ Heute heißt es: „Wir kommen zu dir.“ Wer das ignoriert, läuft Gefahr, den Anschluss zu verlieren – ähnlich wie die Kirche, die es nicht mehr schafft, ihre Zielgruppen wirklich zu erreichen.
Das erfordert Mut, bietet aber vor allem für kleinere Brauereien eine enorme Chance: Sie können Nähe schaffen, anders auftreten und sich vom Mainstream abheben. Große Marken landen oft im Einkaufswagen – aber das Herz? Das schlägt immer öfter für die Kleinen, die Nähe zeigen, Haltung beweisen und auf Augenhöhe agieren. Aber das ist kein Selbstläufer – erst Recht nicht in den aktuell besonders herausfordernden Zeiten!