„Es ist verrückt was da passiert – im Bereich der betriebswirtschaftlichen Steuerung und der Marktbearbeitung kommt eine Revolution auf uns zu“, sagt der Kölner Logistikberater Bernd Huesch von Huesch & Partner. KI ist zwar als Thema in aller Munde. Doch welchen Nutzen die Getränkebranche daraus ziehen könnte, ist noch kaum einem Unternehmen klar geworden, glaubt der Fachmann. Mit dem Open-Source-System AI-Beverage lässt er seine Klienten zielsicher in die Zukunft schauen. Ein Beispiel für ein Unternehmen, dass die Technologie bereits nutzt, um sein Geschäft datenbasiert voranzutreiben, ist die Duisburger Trinkkontor GmbH.
Bislang laufe die KI-Diskussion oft in eine Richtung weniger bedeutender Anwendungen, ist Bernd Huesch überzeugt. Die Unternehmen seien vor allem auf schöne Bilder und Texte fixiert, wenn es um den Einsatz von KI geht. „Viele glauben, wenn ich meinen Anrufbeantworter damit ausstatte, kann er mir bei der Bierbestellung helfen“, so seine Erfahrung. Doch die große Macht der künstlichen Intelligenz liege an anderer Stelle. „Der richtig massive Effekt der KI ist die tagesgenaue Prognose von zukünftigen Mengen und Umsätzen“, so Huesch. Doch den habe mangels betriebswirtschaftlicher Business Cases noch kaum ein Unternehmen im Sinn.
Aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen
„Künstliche Intelligenz bedeutet, dass man aus der Vergangenheit lernt, ähnlich wie ein Mensch auch lernt“, erklärt Bernd Huesch das sogenannte „Machine Learning“. Dieser Ansatz ermöglicht es, aus historischen Daten – wie Sendungs- und Fakturadaten und externe Einflussfaktoren, genannt Prediktoren, – Verhaltensmuster zu identifizieren und darauf basierend Prognosen für die Zukunft zu erstellen. Basis sind hinterlegte Prognosemodelle, in der Regel in der Programmiersprache Python. Besonders wirksam ist dieser Ansatz für die Getränkebranche, deren Absatzmengen von zahlreichen Prediktoren abhängt, darunter Wetter, Migration, Ferienzeiten, Wochentag, Frequenzzeiten oder auch große Events und wiederkehrende Aktionen.
Huesch betont, wie revolutionär die Fähigkeit ist, tagesgenaue Vorhersagen zu treffen: „Man kann plötzlich festlegen, am 24., 25. oder 26. wird in diesem Standort so und so viel verkauft, und danach die Logistik ausrichten.“ Der Einsatz von Machine Learning ermögliche eine exakte Bestimmung des zukünftigen Bedarfs an Spediteuren und Fahrzeugen, die rechtzeitig organisiert werden können. Auch die Beschaffung werde optimiert: Die genauen Mengen, die beispielsweise von Lieferanten gebraucht werden, können treffsicher im Voraus geordert werden.
Trinkkontor: Coronakrise als Chance genutzt
Einer der Pioniere der KI im Getränkegroßhandel ist Trinkkontor, einer der wichtigen Akteure in der Gastronomieversorgung. Mit sieben Standorten und einem Umsatz von rund 180 Millionen Euro beliefert das Unternehmen zahlreiche Gastronomiebetriebe und realisiert jährlich ein Volumen von 1,2 Millionen Hektolitern Getränken. Dabei legt Trinkkontor großen Wert auf Kundennähe: Die Standorte sind in der Nähe der Brauereien angesiedelt, um kurze Transportwege zu gewährleisten.
Die ersten Schritte in Richtung KI wurden während der Schließung der Gastronomie in der Corona-Pandemie unternommen, erinnert sich Geschäftsführer Thomas Nuhn. Angesichts der enormen Absatzrückgänge entschied sich Trinkkontor, die Krise als Chance zu nutzen und mit der Hilfe von Huesch & Partner eine KI-basierte Lösung für die Warenbeschaffung und Logistik zu entwickeln. Ziel war es, die Abläufe transparenter zu gestalten und die Ressourcen effizienter einzusetzen.
Lagerhaltung deutlich optimiert
Auch bei Trinkkontor nutzt die KI historische Verkaufsdaten sowie Wetterdaten und regionale Besonderheiten, um Prognosen für die Warenbeschaffung zu erstellen. Das System gibt danach eine genaue Einschätzung darüber, welche Mengen an Getränken benötigt werden und welche Mitarbeiterkapazitäten erforderlich sind. Diese Planungen sind laut Thomas Nuhn besonders hilfreich für die Standorte, da sie eine bessere Verfügbarkeit der Artikel und ein optimiertes Lagerhaltungssystem ermöglichen. Dabei schaut die KI eine Woche „in die Zukunft“ und liefert für diesen Zeitraum exakte Analysen und Vorschläge.
Einen erfolgreichen Test hat das System zuletzt im Ostergeschäft bestanden, berichtet der Geschäftsführer. Denn während viele Wettbewerber Überbestände hatten, konnte Trinkkontor dank der KI seine Warenverfügbarkeit optimal steuern und Überbestände vermeiden. Die KI ermöglichte es, die Lagerhaltung „liquiditätsschonender“ zu gestalten.
Kunden mittels KI besser kennenlernen
Neben der Waren- und Personalplanung wird die KI in zahlreichen weiteren Bereichen des Unternehmens eingesetzt. Durch die Kombination von Verkaufsdaten, Bewertungen aus sozialen Medien und zusätzlich erworbenen Daten zu Speise- und Getränkekarten kann die KI potenzielle neue Kunden identifizieren, die ähnliche Bedürfnisse wie bestehende Kunden haben. Dies helfe dem Vertrieb, gezielter auf neue Kunden zuzugehen und Umsatzpotenziale zu erschließen, so Nuhn. Im Finanzbereich unterstützt die KI seinen Kollegen in der Geschäftsführung Joachim Ehlers dabei, Kosten zu kontrollieren und Budgets effizienter zu planen.
Bei den Mitarbeitern im Vertrieb sind die Power-Apps von Microsoft beliebt, mit denen sie vor Ort beim Kunden Daten erfassen können. Diese fließen dann in Echtzeit in das System ein und können von den Standorten zur Verbesserung der Effizienz genutzt werden. Reklamationen werden ebenfalls digital über eine App erfasst, sodass täglich aktuelle Übersichten über die Reklamationsquote und deren Ursachen verfügbar sind.
„Die Vorschläge der KI sind mittlerweile schon sehr gut“, fasst Thomas Nuhn zusammen. Das letzte Wort habe aber immer noch der Mensch, wenn es um Planung beispielsweise rund um besondere Marktereignisse gehe, betont er. Die Mitarbeiter vor Ort könnten jederzeit die Vorschläge der KI ignorieren und auf ihre Erfahrung zurückgreifen.
Noch viel ungenutztes Potenzial
Allerdings sind die Einsatzbereiche der KI bei Trinkkontor Nuhn zufolge noch längst nicht ausgereizt. So denkt das Unternehmen gerade darüber nach, ob man für Kunden nicht in naher Zukunft die Bestellung automatisiert vorbereiten könnte. „Die KI weiß ja, was der Kunde zu einem bestimmten Zeitpunkt für Ware benötigt“, erklärt Nuhn. Das Ziel sei es, aufgrund der historischen Daten so genaue Vorhersagen zu treffen, dass die Bestellungen nur noch vom Kunden bestätigt werden müssen. Dies würde nicht nur die Warenbeschaffung weiter optimieren, sondern auch die Planungen im Unternehmen erheblich erleichtern.
Auch Bernd Huesch sieht für die KI in Zukunft noch viele weitere Einsatzgebiete in der Getränkeindustrie. Brauereien könnten beispielsweise von den Vorhersagen profitieren, glaubt der Berater. „In einer volatilen Branche wie der Getränkebranche, in der Absatzmengen von Monat zu Monat um bis zu 50 Prozent schwanken können, sind präzise Prognosen überlebenswichtig“, sagt er. Die KI sei das Werkzeug, um der Konkurrenz mehr als einen Schritt vorauszubleiben.