In Politik und Gesellschaft wird immer öfter über strengere Regeln für die Vermarktung von Alkohol diskutiert. Dagegen sprechen sich die Philosophen und Weinkenner Patricia Rehm-Grätzel und Stephan Grätzel aus. Im Interview mit Getränke News erklären sie, warum es „kulturblind“ wäre, Warnhinweise auf Weinflaschen zu drucken, wie man beim Genuss auch ohne Verbote Maß und Mitte findet und weshalb Wein weder zu billig noch zu teuer sein sollte.
Getränke News: Ihr neues Buch liest sich beinahe wie eine Liebeserklärung an den Wein. Warum ist Ihnen als Philosophen der Wein wichtig – führt er über den Rausch zu tieferer Erkenntnis?
Grätzel: Der Wein ist immer wieder einmal zu einem philosophischen Thema gemacht worden, nicht nur am Rande, sondern auch zentral, etwa bei Nietzsche und seiner Auswertung des Dionysos-Kultes. Tatsächlich wird hier der Rausch zur Erkenntnis gebraucht, eine Mischung aus vollständiger Nüchternheit und Hingabe. Dieses Paradox kann nur philosophisch gelöst werden.
Getränke News: Sie haben Ihr Buch „Reiner Wein“ betitelt, obwohl es nur fürs Bier ein Reinheitsgebot gibt, für den Wein nicht. Was macht den Wein zu etwas Besonderem, worin unterscheidet er sich von anderen alkoholischen Getränken?
Rehm-Grätzel: Durch seine Geschichte als kultisches Getränk. Die Reinheit betrifft hier auch nicht nur den Stoff, wie beim Bier, sondern auch die symbolische Reinheit. Deshalb ist „reiner Wein“ zum Inbegriff von Wahrheit geworden.
Getränke News: Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag eine Verschärfung der Regeln für Alkoholwerbung festgeschrieben. Auch in der Gesellschaft gewinnen Personen und Institutionen immer stärker die Oberhand, die Menschen die Eigenverantwortung absprechen und am liebsten weitere Verbote sehen würden. Bedauern Sie das?
Grätzel: Ja natürlich! Zwar hat der Wein auch Alkohol, aber die Reduzierung darauf ist kulturblind. Deshalb halten wir unser Buch für so wichtig. Es ist ja zur Wertschätzung von Winzerinnen und Winzern und ihres Handwerkes geschrieben. Wenn auf einer Flasche künftig Hinweise auf Erkrankungen stehen, so ist das ein Kulturbruch, der nicht nur zu einer Schädigung dieses Handwerkes werden kann, sondern unsere eigenen kulturellen Wurzeln vergessen lässt.
Getränke News: Was sagen Sie Politikern, Ärzten und anderen, die sich um die hohe Zahl an Alkoholkranken sorgen? Gibt es einen vernünftigen, weitgehend gefahrlosen Weingenuss?
Grätzel: Sicher! Wein in geringen Dosen ist nachweislich gesund, auch wenn es dazu konträre wissenschaftliche Meinungen gibt, die allerdings alles um den Wein herum, die Geselligkeit, seinen Genuss, sein Geheimnis ausblenden. Zwar ist Alkohol ein Zellgift, aber der Weingenuss ist kein Laborversuch, bei dem Mäuse oder Ratten mit Alkohol infiziert werden.
Getränke News: Einerseits geht der Alkoholkonsum in Deutschland immer stärker zurück, die Hersteller bieten deshalb immer mehr alkoholfreie Alternativen an – andererseits sehen wir nach wie vor schreckliche Exzesse wie z.B. jährlich beim Oktoberfest. Wie findet man da Maß und Mitte?
Rehm-Grätzel: Exzesse gibt es auch bei Weinfesten, aber das Bier ist fast ausschließlich – wir nehmen mal die Craft-Biere aus – ein Getränk zum Durstlöschen. Der Wein ist ein Genussgetränk. Aber Genuss muss eben gelernt sein. Dazu gehört das Training der Sinne und ihres Zusammenspiels, aber auch gewisse Kenntnisse über den Weinbau, Terroir, Vinifikation. Wir haben im Buch noch das Kriterium von Nah- und Fernerfahrung ergänzt: Beim Genuss muss eine gewisse Ferne oder Distanz erhalten bleiben.
Getränke News: Wir erleben gerade eine Dauerkrise. Die Gefahr ist groß, dass Menschen in den Alkohol flüchten. Kann Wein in diesen schweren Zeiten helfen, ohne zu einer Gefahr für die Gesundheit zu werden?
Rehm-Grätzel: Ganz sicher, wenn er nicht als Droge gebraucht wird. Hieran scheitern aber alle alkoholischen Getränke, weil sie alles schlimmer machen. Der Wein mit seiner unendlichen Vielfalt ist dagegen ein Feld für Entdeckungen, auch der eigenen Fähigkeiten, Geschmack und Geruch auf hohem Niveau zu sensibilisieren, aber sie auch besser zu erinnern und zuzuordnen. So wird er auch zu einem Gedächtnisspeicher, der schöne Momente bewahren kann.
Getränke News: Wein ist längst „demokratisiert“ und im Supermarkt für wenig Geld erhältlich. Andererseits kann der Preis für herausragende Weine schwindelerregende Höhen erreichen. Ist das angemessen oder eher eine snobistische Überhöhung?
Grätzel: Der Preis ist hier wie überall eine Stellschraube. Deshalb sollte Wein nicht zu billig sein. Dafür könnte die Politik mit einer gestaffelten Alkoholsteuer sorgen: je billiger, desto mehr Steuern. Dann hörte die Weinindustrie auch auf, viel zu billige Weine zu produzieren, und Jan Böhmermann müsste nicht mehr stänkern (lacht).
Bei sehr teuren Weinen wird der Wein zum Luxusartikel wie Uhren oder Autos. Auch das ist verfehlt. Wein ist ein Lebensmittel und darin mit Brot zu vergleichen, das übrigens auch durch alkoholische Gärung entsteht. Auch beim Brot haben wir beides, die Industrieware und das Handwerk. Aber hier sind die Preisunterschiede nicht so ungeheuerlich wie beim Wein.
Dass man sich heute gewisse Weine aus Burgund oder Bordeaux überhaupt nicht mehr leisten kann, schadet auf die Dauer gesehen diesen Weingütern. Sie sollten sich dagegen wehren, Ziel von Spekulationen zu sein. Die Region insgesamt profitiert aber davon. Durchschnittliche Weine etwa aus Burgund sind viel teurer als vergleichbare aus anderen Regionen.
Getränke News: Während dem Alkohol zunehmend der Kampf angesagt wird, will die Politik den Konsum von Cannabis legalisieren, wenn auch unter strengen Bedingungen. Was meinen Sie dazu? Sollte man Cannabis ähnlich betrachten wie alkoholische Getränke?
Grätzel: Die Legalisierung von Cannabis ist – unter diesen Auflagen – ein längst fälliger Schritt. Man sollte das aber nicht mit Wein zusammenbringen. Wein ist eben etwas völlig Anderes und Besonderes, wie schon gesagt. Deshalb beflügelt er die Kunst, die Religion, die Architektur und eben auch die Philosophie. Das werden weder Bier, Schnaps noch Cannabis jemals erreichen.
Getränke News: Was bedeutet Wein für Sie persönlich? Wie, wo, bei welcher Gelegenheit genießen Sie ihn am liebsten?
Rehm-Grätzel: Wein hat für uns eine sehr persönliche Seite, wir haben uns bei einer Weinprobe von burgundischen Weinen in Dijon kennengelernt. Dieser Anfang ist immer dabei. Wein ist eben auch ein Erinnerungsgetränk, in der Antike, im Christentum, aber natürlich auch im persönlichen Leben heute, wenn wir an Geburtstage oder Hochzeitstage und an viele andere Jubiläen denken. Wir genießen Wein gelegentlich zum Essen und zum Ausklang des Tages.
Unsere Gesprächspartner
Prof. Dr. Stephan Grätzel ist emeritierter Professor für Philosophie an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Dr. Patricia Rehm-Grätzel wurde an der Université de Bourgogne zum Doktor der Philosophie promoviert und lehrte dort sowie in Waterford (Irland) und Mainz. Derzeit ist sie Lehrerin an einem Mainzer Gymnasium.
Für das Paar ist der Wein weit mehr als ein gewöhnliches Lebens- und Genussmittel. In ihrem neuen Buch „Reiner Wein. Philosophie zum Einschenken“ beschäftigen sie sich mit seiner mythologischen, religiösen und philosophischen Dimension.