Gin hat seinen Zenit überschritten. Der Hype ist vorbei. Dieses Urteil hört man auf Fachmessen immer wieder. Auch Barkeeper prophezeien nicht erst seit gestern den bevorstehenden Niedergang. Und die Realität? Freilich kann niemand in die Zukunft blicken – und ob bald Premium-Rum oder Wermut der Wacholderspirituose den Rang ablaufen wird, weiß niemand zu sagen.
Worauf aber auch immer die Experten ihre düsteren Prognosen stützen – die Marktdaten können es nicht sein, denn die Entwicklung im Handel kennt nach wie vor nur eine Richtung: aufwärts. Laut dem britischen Marktforschungsunternehmen IWSR hat sich die Kategorie von 2012 bis 2017 fast verdoppelt (+91 Prozent), und auch aktuelle Zahlen des Instituts IRI weisen steil nach oben: Im Lebensmittelhandel wurden im letzten Jahr 17,73 Millionen Flaschen Gin (inkl. Genever) verkauft; gegenüber 2017 entspricht das einem Zuwachs von gut 48 Prozent. Seit 2016 hat sich der Absatz sogar mehr als verdoppelt (8,7 Mio. Flaschen).
(Quelle: IRI, Angaben für LEH gesamt, Daten gerundet)
Auch die Hersteller und Distributeure zweifeln offenbar nicht an dem anhaltenden Trend. Die Zahlen belegten, „dass die Euphorie … ungebrochen ist, und das spüren wir auch“, fasst Philipp Sorbi, Senior Brand Manager Lifestyle Brands bei Beam Suntory, auf Anfrage von Getränke News! zusammen, der damit auch „großes Potenzial“ für die eigenen drei Gin-Marken Larios, Sipsmith und Roku sieht. Nach seiner Einschätzung tragen Premium- (20 bis 30 Euro) und sogar auch Superpremium-Qualitäten (über 30 Euro) überproportional zum Erfolg des Segments bei.
Craft-Bewegung als ein Treiber
Doch woran liegt es, dass deutsche Konsumenten heute schätzen, was sie früher naserümpfend als Spirituose mit „Friedhofsbaum-Aroma“ hinter die britischen Grenzen verbannen wollten? Ist es die Inspiration durch die Craft-Bewegung und die damit einhergehenden kreativen Herstellungsmöglichkeiten, wie Sorbi annimmt? Oder ist es der per se heute so attraktive Retro-Charakter, wie Tjalling Simoons, Marketingdirektor Germany & Alps bei Bacardi, glaubt? Er hält zudem die lange Historie und die vielfältige Produktion für attraktive Aspekte. „Das emotionalisiert den Konsumenten, da er mit seinem Wissen fachsimpeln kann“, so Simoons. Nicht zuletzt sei es auch die Tatsache, dass Gin lokal hergestellt werden könne und nicht aus entfernten Ländern kommen müsse.
Dafür spricht sicherlich der Erfolg der Schwarzwald-Marke Monkey 47 oder, um ein aktuelles Beispiel zu nennen, von Ferdinand’s Saar Dry Gin, des Wacholders aus dem Saarland, dessen Vertrieb ab Juli der Hamburger Distributeur Borco-Marken-Import übernehmen wird. Mit ihrer einzigartigen Riesling-Infusion fange die Marke „den Geschmack einer ganzen Region“ ein und überzeuge in Zeiten, „in denen Authentizität und Regionalität von Konsumenten zunehmend geschätzt und gefordert werden“, unterstreicht Borco-Geschäftsführerin Dr. Tina Ingwersen-Matthiesen.
Sie hebt allerdings zugleich hervor, dass diese Authentizität keineswegs nur heimische Produkte attraktiv macht. Vielmehr zeichne „das Spiel mit verschiedenen Ingrediezien“ generell Gin als Kategorie aus. So lasse etwa die Marke Whitney Neill durch die Verwendung zweier südafrikanischer Zutaten Genießer „von der Ferne träumen“.
„Trendkategorie Nummer eins“
Ebenfalls in den Süden, wenn auch nicht so weit, richten Fans der italienischen Superpremium-Marke Villa Ascenti den Blick. Dass Diageo sie, zusätzlich zu Gordon’s und Tanqueray, kürzlich ins Portfolio aufgenommen hat, zeigt, dass man auch hier noch von einer fruchtbaren Entwicklung ausgeht. Gin sei „die Erfolgsgeschichte der Branche“ und bleibe in Deutschland „die Trendkategorie Nummer eins“, glaubt man in Hamburg, wie ein Unternehmenssprecher auf Anfrage betont. „Wir gehen davon aus, dass Gin auch weiterhin sehr gefragt sein wird.“
Auch weitere Engagements in Sachen Gin zeigen, welches Potenzial Branchenvertreter nach wie vor in dem Klassiker sehen – denkt man etwa an Mast-Jägermeister, die vor knapp einem Jahr sogar erstmals eine strategische Partnerschaft eingingen, um am Erfolg von Gin Sul partizipieren zu können – oder einfach an Investitionen in Line Extensions, wie sie beispielsweise Bacardi immer wieder in die Marke Bombay Sapphire tätigt – aktuell in die Limited Edition „English Estate“, die mit drei neuen Botanicals veredelt wurde.
Innovationen kommen dabei immer öfter auch aus Richtungen, die man früher so nicht erwartet hätte – wie von Schwarze und Schlichte, die mit Friedrichs Dry Gin seit einigen Jahren am Boom teilhaben, oder Hardenberg-Wilthen, die ihr inzwischen bereits umfangreiches Gin-Sortiment im Oktober letzten Jahres noch um die Marke Bloom ergänzten.
Gin punktet mit Vielseitigkeit
Dabei geht das Angebot inzwischen längst weit über die Wacholder-dominierten Klassiker hinaus. Auf der Suche nach neuen Geschmackserlebnissen werden Genießer immer wieder fündig, wie Dr. Tina Ingwersen-Matthiesen weiß: Die Beliebtheit beruhe eben auch auf „den verschiedenen Geschmäckern, die mit Botanicals erzielt werden können“, so die Borco-Chefin, die darüber hinaus die Eignung von Gin als Partner in vielfältigen Drink-Kreationen – über den berühmten Gin & Tonic hinaus – hervorhebt.
Wer unter all den klassischen und modernen Varianten nichts Passendes entdeckt, findet vielleicht an der neuen Abwandlung Pink-Gin oder anderen Flavours Gefallen oder lässt sich von jungen Premixes überzeugen. Wenn es darum geht, die Begeisterung weiter zu befeuern, sind die Hersteller jedenfalls erfinderisch. „Innovationskraft ist einer unserer Haupttreiber“, fasst dies der Diageo-Sprecher zusammen.
Eines kann man gleichwohl den Zweiflern zugestehen: Wer letztlich langfristig an dem Trend partizipieren kann, bleibt vorerst offen. Am Ende sind es vielleicht doch nur einige wenige Marken, die angesichts einer kaum überschaubaren Zahl von auf den Markt drängenden Spezialitäten übrigbleiben. Gerade die bekannten Markenartikler sind da sehr siegessicher; so resümiert etwa Dr. Tina Ingwersen-Matthiesen: „Das große Potenzial von Gin scheint noch lange nicht ausgeschöpft zu sein.“