Nach monatelangem Lockdown suchen die Leute nach Inspiration, nach Vielfalt und Gestaltungsmöglichkeiten. Welche Chancen sich daraus jetzt für Marken ergeben, erläutert Marktforscher Paul Bremer im Interview mit Getränke News. Bremer ist Senior-Projektleiter im Rheingold Institut und forscht seit 2014 zu verschiedenen marken- und kulturpsychologischen Phänomenen. Seine Schwerpunkte liegen vor allem in der internationalen Forschung sowie in der Marken- und Kommunikationsentwicklung im Bier- und Getränkebereich.

Getränke News: Seit fast einem Jahr leben wir mit der Pandemie. Wie hat das die Menschen verändert?
Bremer: In unseren tiefenpsychologischen Studien bemerken wir ein kontinuierliches Schwinden der letzten Resilienzen. In den letzten Monaten fielen zudem saisonal auch noch die kleinen Freuden wie das Grillen oder das gemeinsame Abstands-Feierabendbier auf der Parkbank gänzlich flach.
Zu Beginn der Pandemie fragten sich die Leute, was sie tun können, um kein Corona zu bekommen. Jetzt fragen sie sich, was die Politik noch so alles vorhat, um ihnen den Alltag zu vermiesen. Die Menschen vermissen Verhältnismäßigkeit und Perspektiven, wie sie mit dem Virus künftig leben können. Sie leiden gerade unter Perspektivlosigkeit und Wintermüdigkeit und haben das Gefühl, es wird noch ewig so weitergehen.
Tatsache ist: Ende letzten Jahres hat die Politik große Hoffnungen und Erwartungen mit dem Impfstoff geweckt. Die Leute haben gehofft, dass der Lockdown bald zu Ende ist. Nun sind sie enttäuscht. Sie überlegen, wie sie die nächsten Monate überstehen sollen.
Getränke News: Wie hat sich das Verhalten verändert?
Bremer: Die Leute haben gelernt, dass das Klopapier nicht mehr aus dem Handel verschwindet und das Leben trotz Corona weitergeht. Im Laufe der letzten 12 Monate wurde der Aktions- und Beschäftigungsradius in und um das eigene Zuhause ausgekostet. Jetzt ist man kontinuierlich auf der Suche nach neuer Seelennahrung jenseits der ausgetretenen Spazierpfade und bekannten Netflix-Serien.
Die Erlebnisvielfalt, die in der realen Welt durch die Kontaktbeschränkungen und den Lockdown geringer geworden ist, suchen die Leute jetzt bei anderen Dingen. Viele denken inzwischen, dass Corona nie wieder verschwinden wird und vermissen eine Perspektive für die Zukunft. Sie wollen gezeigt bekommen, wie es auch mit dem Virus weitergehen kann.
Getränke News: Welche Rolle können Marken dabei spielen?
Bremer: In der Krise sollten Marken zeigen, dass sie da sind. Sie sollten dem Verbraucher das Gefühl geben, ihn in dieser schweren Zeit zu unterstützen. Das Vertrauen in starke Marken und Institutionen ist groß. Wenn die Welt im Chaos ist, brauchen die Leute das Gefühl von Sicherheit.
Getränke News: Was sollten die Markenhersteller also tun?
Bremer: Die Markenartikler sollten nicht überlegen, was sie tun, wenn die Pandemie vorbei ist, sondern wie sie jetzt die Menschen unterstützen und ihnen helfen können, etwas Lebendigkeit in ihren Alltag zu bekommen. Dabei zählen Bilder jetzt mehr denn je. Das heißt, es gilt Bilder zu finden, mit denen die Marke den Menschen Lebensfreude und Perspektive geben kann.
Getränke News: Marken stehen aber doch schon immer für bestimmte Bilder.
Bremer: Das ist richtig. Aber gerade im Biermarkt gab es in den letzten Jahren schon eine große Götterdämmerung. Die Leute wurden der eher einheitlichen Pilsregale ein bisschen überdrüssig – neue Sorten, Designs und Ideen kamen auf oder wurden plötzlich außerhalb ihres Kernbereiches populär. Marken mit authentischen und lebendigen Bildern wie das Helle Pülleken oder Schreckenskammer Kölsch feiern Erfolge, indem Sie mit Märchen oder anderen spannenden Bildern spielen.
Die Leute suchen nach Inspiration, nach Vielfalt, nach Gestaltungsmöglichkeiten. Die Puzzles sind ausgepuzzelt, die Kochrezepte durchprobiert. Die Menschen brauchen frischen Wind und Lebensfreude. Das können spannende Suchfelder für Marken sein, ohne jede Woche ein neues Produkt erfinden zu müssen.
Getränke News: Wie wird es nach dem Lockdown weitergehen?
Bremer: Wir müssen uns auf verschiedene Szenarien vorbereiten, wie sich die Pandemie entwickelt. Grundsätzlich gilt: Die Leute haben einen großen Nachholbedarf und werden nach der Öffnung wieder auf Veranstaltungen strömen. Nach der ersten Öffnungseuphorie werden sie sich aber schon genauer überlegen, was sie tun, und bei vielen Dingen noch lange ein mulmiges Gefühl haben.
Ein konstruktiver und kritischer Gesellschaftsdialog und eine psychologische Aufarbeitung werden uns noch lange Zeit beschäftigen. Ein einfaches Weiter-So wird es nicht geben.