Es ist ein Kampf „Klein gegen Groß“, wie ihn die Branche selten gesehen hat: Seit drei Wochen liefert sich die Mehrweg-Allianz* einen öffentlichen Schlagabtausch mit Lidl. Anlass ist die millionenschwere Kampagne „Aus Liebe zur Natur“, die der Discount-Riese Mitte April an den Start gebracht hat, um breiten Bevölkerungsschichten die ökologischen Stärken seiner Kreislaufflasche zu vermitteln. Der als Testimonial teuer eingekaufte Moderator Günther Jauch erklärt darin – zusammengefasst – warum die Lidl-Flasche im Vergleich mit marktüblichen Mehrwegflaschen angeblich zu den umweltfreundlichsten Lösungen überhaupt zählt.
Erwartungsgemäß ist die Empörung der Gegenseite groß. Die Kampagne sollte eher überschrieben sein mit „Aus Liebe zu den eigenen Investitionen“, ärgert sich etwa Günther Guder, geschäftsführender Vorstand des Verbands Pro Mehrweg. Lidl habe nach eigenen Angaben rund 200 Millionen Euro in Anlagen zur Herstellung und Abfüllung von Einweg-Plastikflaschen investiert – und eben diese Investitionen wolle man nun gegen Maßnahmen der Bundesregierung zur Mehrwegförderung schützen.
Ausgelöst wurde der Lidl-Vorstoß vermutlich von Hinweisen, das Bundesumweltministerium plane eine Mehrweg-Novelle, in der unter anderem eine Mehrweg-Angebotspflicht verankert werden soll. Auch das EU-Parlament beschäftigt sich derzeit mit dem Entwurf seiner neuen Verpackungs- und Verpackungsabfall-Verordnung (PPWR), der seit Jahresende 2022 vorliegt. Sollte sich in Zukunft eine verpflichtende Angebotsquote durchsetzen, würde das den allein auf Einweg festgelegten Lidl zu erheblichen Investitionen zwingen.
Studie setzt Mehrwegbranche unter Druck
Doch auch für die Gegenseite hat die Lidl-Werbung kräftig Sprengstoff: Sollte sich die Argumentation politisch durchsetzen, ist das gesamte Geschäftsmodell des stark mehrwegorientierten Getränkefachgroßhandels und vieler kleiner und mittlerer Brunnen in Frage gestellt. Dreh- und Angelpunkt der Diskussion ist eine neue Ökobilanz des Ifeu-Instituts, die Lidl eigens in Auftrag gegeben hat und die belegen soll, „dass Flaschen mit einem hohen Rezyklatanteil sowie geringen Materialeinsätzen und marktübliche Mehrwegsysteme hinsichtlich ihrer Klimawirkung gleichwertig sein können“.
Eben dieses Ergebnis ziehen die Gegner in Zweifel. Die Studie vergleiche Äpfel mit Birnen, kritisierte etwa die Deutsche Umwelthilfe (DUH) kurz nach Kampagnenstart in einer Pressemitteilung. Konkret: Lidl vergleiche sein eigenes Einwegsystem nicht mit dem eines spezifischen Mehrweg-Abfüllers, sondern stelle sie Marktdurchschnittsdaten für Mehrweg gegenüber. Zudem würden für das Lidl-System neue technische Daten von 2021/22 verwendet, bei Mehrweg greife man auf Zahlen zurück, die teilweise bereits vor über zehn Jahren erhoben wurden.
Letzte Ökobilanzen sind über zehn Jahre alt
In diesem Punkt allerdings hatten die Verfasser keine Wahl, denn zu Mehrweg fehlt es schon lange an aktuellen Daten, was sich voraussichtlich so schnell auch nicht ändern wird. Denn bereits vor einigen Jahren beschloss das Bundesumweltministerium, keine Ökobilanzen mehr zu erstellen, sondern stattdessen Kriterien zu veröffentlichen, nach denen sie verfasst werden und dem Umweltbundesamt zur Prüfung übergeben werden können. Auch brancheneigene Initiativen sind wohl kaum zu erwarten. Eine Ökobilanz koste je nach Aufgabenstellung 200- bis 300.000 Euro, dies könnten sich vor allem „kapitalkräftige Unternehmen“ leisten, gibt Günther Guder zu bedenken – „eben die Einwegseite“.
Der Kritik an der Datenlage hält wiederum Lidl entgegen, für die Untersuchung seien die Ökobilanzen von 2008 und 2010 „umfänglich aktualisiert“ worden, unter anderem sei man von kürzeren Distributionswegen und höheren Umlaufzahlen ausgegangen. Zudem forderten die Unternehmen der Schwarz-Gruppe, zu der der Discounter gehört, schon seit vielen Jahren neue Ökobilanzen für Getränkeverpackungen, heißt es in einer Pressemitteilung. Denn: „Pauschale Behauptungen zu ökologischen Wirkungen von Mehrweg oder Einweg mit Pfand müssen wissenschaftlich überprüfbar sein.“
Kein Kreislauf ohne Materialschwund
Ein weiterer Punkt, gegen den Lidl sich wehrt, ist der Vorwurf, das System der Kreislaufflasche sei in Wirklichkeit kein geschlossener Kreislauf. Vielmehr bestünden die Flaschen vollständig aus Recyclingmaterial und würden ausschließlich aus den bei Lidl und Kaufland zurückgegebenen Einwegflaschen hergestellt. Dass darunter auch Flaschen anderer Hersteller seien, liege in der Natur des deutschen Einwegpfand-Systems.
Eine Sichtweise, die Günther Guder von Pro Mehrweg auf die Palme bringt. Es gingen selbst im besten Kreislauf zwei bis fünf Prozent an Material verloren, und die würden mit PET aufgefüllt, das auch von Brunnen stamme, die bei dem Discounter gelistet seien. Manche Brunnenchefs seien darüber vermutlich „stinksauer“, denn ihnen werde letztlich von ihrem Absatzpartner „der große Mittelfinger gezeigt“.
Heftig umstritten ist im Schlagabtausch der Systeme auch der Faktor Logistik. Laut Lidl-Angaben werden durch den Transport von gepressten Kreislaufflaschen verglichen mit Mehrweg-Leergut bei jedem Rücktransport etwa 26 Lkw-Fahrten vermieden. Auf Seiten der Gegner geht man davon aus, dass der Discounter seine Wege übermäßig positiv darstellt. Insbesondere werde in der optimistischen Darstellung der Hinweg einfach unterschlagen.
Ergebnisse nicht auf Gesamtmarkt übertragbar
Eine Schlüsselfrage in der Diskussion ist sicherlich am Ende, inwieweit die Ifeu-Erhebungen für den Gesamtmarkt relevant sind. Das zieht die Mehrwegseite entschieden in Zweifel. Da in die Untersuchungen ausschließlich Lidl-Flaschen eingegangen seien, könne man die Ergebnisse nicht auf andere Unternehmen übertragen, glaubt Günther Guder, „schon gar nicht auf andere Getränkesegmente außerhalb des Mineralwasserbereichs“.
Sogar in der Studie selbst werde ausdrücklich darauf hingewiesen, „dass die hier bilanzierte hochoptimierte PET-Einwegflasche nur in der hochintegrierten Umgebung der MEG funktioniert“. Der Einsatz von 100 Prozent R-PET könne keine allgemeingültige Lösung für alle PET-Einwegsysteme im deutschen Markt sein, da im Gesamtmarkt langfristig diese 100 Prozent nicht realisiert werden könnten.
Weniger als 45 Prozent des R-PETs für Getränke verwendet
Tatsächlich funktioniert das allein schon deshalb nicht, weil das im Pfandsystem eingesammelte R-PET zu rund 55 Prozent in andere Branchen abwandert, da es an Hersteller von Folien, Textilien und Verpackungen verkauft wird. Auch dazu hat das Ifeu-Institut kürzlich – im Auftrag von Coca-Cola – eine Studie verfasst. Demnach ist der hochwertige Rohstoff für die Kreislaufführung meist verloren, wenn er in anderen Anwendungen landet – „mit negativen ökologischen Auswirkungen“, wie Studienleiter Benedikt Kauertz erläutert.
Coca-Cola und ebenso Gerolsteiner haben deswegen Ende April von der Politik gefordert, Getränkeunternehmen den Erstzugriff auf das lebensmittelsichere Material zu gewähren. Vermutlich mit wenig Aussicht auf Erfolg, denn durch die europäische PPWR dürfte sich der Wettbewerb um den kostbaren Rohstoff eher noch verschärfen, wie man auch bei Gerolsteiner annimmt.
Ob am Ende die Lidl-Studie und -Kampagne die Politik in ihren Entscheidungen beeinflussen werden, ist schwer zu vorherzusagen. Mit ihrer kühlen, wissenschaftlich untermauerten Analyse und ihrer Berufung auf ISO-Standards und „unabhängige externe Auditoren“ steht die Schwarz-Gruppe derzeit in der Diskussion sicherlich souveräner und überzeugender da als die Mehrweg-Fraktion, die nicht auf aktuelle Daten verweisen kann und rein politisch – unter anderem mit der Europäischen Abfallhierarchie „Vermeidung vor Verwertung“ – argumentiert.
Komplexe Sachlage erschwert politische Entscheidung
Andererseits zeigt die Auseinandersetzung auch gleichsam wie unter dem Brennglas, wie vielschichtig und kompliziert die Sachlage ist. Was vielleicht auch ein Grund dafür sein könnte, dass sich politisch in der Angelegenheit seit Jahren wenig tut – wie etwa in der Frage einer Sanktionierung der seit Jahren weit unterschrittenen Mehrweg-Zielquote von 70 Prozent. Die Frage ist, ob – angesichts der auf beiden Seiten lückenhaften Daten – jemals der Beweis geführt werden kann, dass Mehrweg wirklich so viel umweltfreundlicher ist, als man vor wenigen Jahren noch selbstverständlich annahm. Zu groß wäre möglicherweise im Falle der Einführung einer Sonderabgabe auf Einweg das Risiko einer Klage der Gegenseite.
Möglicherweise werden die Systeme also auch in Zukunft mehr oder weniger friedlich nebeneinander existieren (müssen), wofür sich zumindest Lidl – vorgeblich – offen zeigt, der seine Kampagne ausdrücklich nicht als Angriff gegen Mehrweg verstanden wissen will. Man teile „das politische Ziel einer ökologischen Transformation des Getränkemarktes“, teilt das Unternehmen dazu mit. In der Wahl der Instrumente zu dessen Erreichung plädiere man „für eine systemoffene, diskriminierungsfreie“ Lösung, in der beide Systeme „ihren Beitrag leisten können und sollten“.
*Die „Mehrweg-Allianz“ setzt sich zusammen aus der Deutschen Umwelthilfe (DUH), der Stiftung Initiative Mehrweg (SIM), dem Bundesverband des Deutschen Getränkefachgroßhandels (BV GFGH), dem Verband des Deutschen Getränke-Einzelhandels (VDGE), dem Verband Private Brauereien Deutschland und dem Verband Pro Mehrweg.