Thüringer haben sich DDR-Gewohnheiten bewahrt
Wenige großen Marken, nur geringe Ausschläge beim Absatz: Der Thüringer Biermarkt hat sich in den letzten 25 Jahren seine Stabilität bewahrt. Man hat zwischen Eisenach und Gera die traditionellen Trinkgewohnheiten aus DDR-Zeiten größtenteils beibehalten. Dabei bewegt sich das Thüringer Marktverhalten auf Augenhöhe mit dem seines sächsischen Nachbarn. Pils in der Halbliter-Flasche gilt zwischen dem Eichsfeld und dem Thüringer Wald als unangefochtener Sortenliebling, ganz nach dem Motto „Keine Experimente bitte!“
Die Brauwirtschaft nach dem Ende der DDR
Die Situation der thüringischen Brauwirtschaft ist nach der Wende überall gleich. Heruntergekommene Betriebe, teilweise dramatische Qualitätsschwankungen der Biere sowie mangelnde Wertschätzung der heimischen Biertrinker. Letztere werden nach der Wende von den „West-Brauereien“ massiv umworben. Aus dem benachbarten Hessen und Bayern drängen die Wettbewerber mit besten Bierqualitäten und -marken ins Land. Thüringens Brauwirtschaft steht zu Beginn der neunziger Jahre ein nie dagewesener Umbruch bevor. Hinter dem Fortbestand einer jeden Brauerei steht in jenen Jahren ein großes Fragezeichen. Zu groß sind die Altlasten der volkseigenen Betriebe (VEB).
1969 hatte sich das VEB Getränkekombinat Erfurt formiert – mit weitreichenden Konsequenzen. Die Kombinatsleitung übernahm die zentralistische Verwaltung der angeschlossenen Betriebe. Unter dem gemeinsamen sozialistischen Dach waren VEB Brauerei Braugold Erfurt, VEB Brauerei Eisenach, VEB Brauerei Gotha, VEB Brauerei Greußen, VEB Brauhaus Felsenkeller Arnstadt, VEB Brauhaus Mühlhausen, VEB Limona Weimar, VEB Roland-Bräu Nordhausen sowie die VEB Vereinsbrauerei Apolda vereint. Nicht alle sollten es schließlich in die Marktwirtschaft schaffen.
Wende bedeutete überall Neuanfang
Der Schlüssel zur Rückkehr des Verbrauchervertauens waren Investitionen in Qualitätssicherung und der rasche Aufbau von Marktkompetenz. Die Treuhandgesellschaft tat sich vielerorts schwer, deutsche Investoren zu finden. So gaben sich in Gotha westdeutsche Brauer wie beispielsweise Warteiner-Inhaber Albert Cramer die Klinke in die Hand, ehe sie desillusioniert wieder von dannen zogen. Letztlich musste überall dort, wo die Gebäudesubstanz noch brauchbar war, der Maschinenpark komplett erneuert werden, vom Sudhaus bis hin zur Logistik. Dort, wo die Gebäudesubstanz marode war, wurden in absehbarer Zeit Investitionen in neue Hallen oder in eine komplett neue Brauerei fällig. So gingen die Braustandorte letztlich zügig, aber auch für überschaubare Summen an die neuen Eigentümer.
Die Oettinger Brauerei übernahm die Braustätte in Gotha. Ebenfalls 1991 wurde die Köstritzer Schwarzbierbrauerei in die Bitburger Braugruppe integriert. Der zentrale Standort des ehemaligen VEB Getränkekombinates in Erfurt ging an die hessische Licher Privatbrauerei, während die Vereinsbrauerei Greiz von der Tucher Bräu in Nürnberg gekauft wurde. Die Brauerei Leikeim aus dem oberfränkischen Altenkunstadt übernahm die Altenburger Brauerei. Die Jahre des Aufbruchs sollten sich für die meisten Braustätten im Thüringer Land erfreulich bemerkbar machen, nachdem es die Verantwortlichen in den Sudhäusern, Lager- und Abfüllkellern unter sozialistischer Kombinatsleitung mit einer fortwährenden Mangelverwaltung zu tun hatten.
Standorte Gotha und Köstritz gestärkt
1995 war die Neuordnung des Thüringer Biermarktes weitgehend abgeschlossen – die Verlierer und Gewinner standen fest. Die Brauerei in Gotha war nach dem Verkauf an das Oettinger Brauhaus längst in ruhiges Fahrwasser gekommen. Zu verdanken hat sie es Dirk Kollmar. Der damalige Oettinger-Junior-Gesellschafter erwies sich als Glücksfall für die altehrwürdige Residenzstadt mit ihren 46.000 Einwohnern. Kollmar fand persönliches Gefallen an seinem neuen Brauort fernab des Oettinger Stammsitzes. Gotha wurde zu seiner neuen Heimat, in der er schließlich eine nagelneue Braustätte aufbaute. Damit entstand zugleich ein funktionierender Satellit, der das Oettinger Geschäftsmodell des Preiseinstiegssortiments stützte und bis heute Thüringens größte Braustätte ist.
Überdies engagierte sich Kollmar, damals selbst engagierter Basketballer, beim Gothaer Club und hinterließ nach seinem frühen Ableben eine große Lücke im Sportsponsoring der örtlichen Basketballer. Mehr noch: Der Standort Gotha verlor für Außenstehende die Taktgeberfunktion, nachdem sich Pia Kollmar 2020 im schwäbischen Oettingen eine zentrale Führungsrolle in ihrem Familienunternehmen aufgebaut hatte und seither als Geschäftsführerin für Finanzen, Controlling, Personal, IT und Logistik das Unternehmen führt.
Das Kontrastprogramm einer ostdeutschen Brauerei mit Premium-Anspruch lieferte die Bitburger Braugruppe ab. Sie ging in den neunziger Jahren durchaus ambitioniert an die strategische Osterweiterung heran. Die Marken Wernesgrüner in Sachsen und Köstritzer in Thüringen sollten dafür sorgen, veritable Ostmarken an den Start zu bringen. Dass es gelungen ist, das Köstritzer Schwarzbier als Spezialität zu positionieren, lag vor allem an der Bekanntheit und langen Alleinstellung des Produktes. Das Schwarzbier fand schnell Liebhaber, konnte aber letztlich den mengenrelevanten Aufstieg in die Top-Liga der Ostmarken nicht erreichen. 1995 lag man mit einem Köstritzer Ausstoß von rund 500.000 Hektolitern zwar gut im Rennen, musste sich aber schon wenige Jahre später eingestehen, dass die Expansion an die Grenzen gestoßen war.
25 Jahre später weiß man, dass das Wernesgrüner-Kalkül zur sächsischen Markteroberung nicht aufgegangen ist und die Braustätte inzwischen an Carlsberg verkauft wurde. Gerade jüngst schiebt die Bitburger Braugruppe das Köstritzer Sortiment mit der marktdominanten Sorte Pils stärker an, da dem hauseigenen Bitburger Vertrieb die Marke Wernesgrüner als Verhandlungsmasse abhandengekommen ist. Doch die Eifeler tun sich auch heute noch am einzig verbliebenen Standort in Thüringen schwer. Selbst hohe Kommunikationsinvestitionen im attraktiven NRW-Markt brachten keine großen Zugewinne in Distribution und bei Marktanteilen. Dabei galt die Köstritzer Brauerei schon zu Jahrtausendbeginn als Innovationsbringer. Bibop sollte nach seiner Markteinführung 2002 als damals jüngstes Produkt der Bitburger Braugruppe das junge Biermixpublikum erobern. Es war das erste Schwarzbier-Cola-Mix-Getränk mit Guarana und erzielte im damals boomenden Biermixmarkt nur anfangs Erfolge.
Erfurter Braugeschichte war nicht zu retten
Traurig hingegen ist das Schicksal der Braugold Brauerei in Erfurt, die 1995 immerhin schon 300.000 Hektoliter produzierte. Dem einstigen Hauptsitz des VEB Getränkekombinates sollte es nicht mehr gelingen, den Turnaround zu schaffen. Zunächst von der Treuhand an die Licher Brauerei weitergereicht, kamen 1996 die Alteigentümer der Riebeck-Gruppe ans Ruder. Doch dort fehlte es schlichtweg an Investitions- und Vertriebskraft, um den Platzhirsch der Landesmetropole im härter gewordenen Wettbewerb in die Zukunft zu führen. So folgte 2007 der Verkauf an die Eschweger Klosterbrauerei und den Höxteraner Getränkefachgroßhändler Waldhoff. Beide beendeten 2010 mit der Aufgabe der Produktion die Brautradition in Erfurt. 2018 übernahm die Einsiedler Brauerei schließlich die Markenrechte und erhielt damit zumindest der Region ihre angestammte Braugold-Tradition.
Klein und fein sollte es hingegen in Greiz, Altenburg und Apolda weitergehen. Während die Vereinsbrauerei Greiz in den Händen der Familie Schäfer landete, braute die Altenburger Brauerei unter der Regie des neuen Eigentümers aus Leikeim auf solidem Regionalniveau weiter. Mit einem überschaubaren Marktanteil, aber dafür mit viel Herzblut ist seither die Gessner Brauerei aktiv, die mit viel lokaler Identität brauwirtschaftliche Thüringer Biertradition pflegt. Mit einem Getränkeausstoß von 145.000 Hektolitern pro Jahr gehört das Familienunternehmen heute zu den größten Privatbrauerein Thüringens. Mittlerweile hat die Rückbesinnung auf regionales Bier auch den kleinen Brauern im Lande Zuwachs beschert. Wurden beispielsweise im Jahr 1995 noch 23.000 Hektoliter „Saalfelder Bier“ gebraut, waren es 2010 bereits 37.000 Hektoliter. Die große Nachfrage im Jahresverlauf 2020 steigerte das Ausstoßvolumen der Saalfelder Brauerei nochmals auf 53.000 Hektoliter, begünstigt durch ein breites Sortenangebot sowie durch eine in der Pandemie gestiegenen Nachfrage nach Flaschenbier.
Pils in der Favoritenrolle
Mit über 58 Prozent aller verkauften Biere gilt Pils im Thüringer Handel als absoluter Sortenliebling und liegt damit deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Erst in jüngster Vergangenheit schaffte es das Helle die ansonsten noch zu DDR-Zeiten präferierte Sorte Export zu überholen. Das Helle rangiert mit einem Sortenanteil von 8 Prozent immerhin schon 1,5 Prozent über dem geschmacklich nahestehenden Export, einst eine beliebte Sorte zu DDR-Zeiten. Derweil völlig abgeschlagen ist die Sorte Weizenbier, die mit einem Anteil von 2,0 Prozent deutlich zurückgefallen und damit inzwischen im Handel in die Nische gedrängt ist. Radler und Alkoholfrei erreichten 2021 einen ähnlichen Anteil von immerhin 4,4 Prozent bzw. 4,9 Prozent und haben damit einen festen Platz im Sortenspektrum erobert. Bei den Spezialitäten wie den immer noch prosperierenden Landbieren greifen die Thüringer eifrig zu – über 5,0 Prozent aller Biere besitzen den Charakter von Spezialitätenbieren.
In Thüringen spielen altbekannte DDR-Konsumgewohnheiten nach wie vor eine wichtige Rolle – Bier ist eben ein generationenübergreifendes Thema. Genauso wie im Sortenverhalten gehen die Bierfreunde bei der Gebindewahl ihren angestammten Präferenzen nach. Nahezu 15 Prozent der gesamten im Handel verkauften Biere gehen als Einzelflaschenkauf über den Kassentresen. Erinnerungen an das selektive Kaufverhalten in den DDR-Kaufhallen werden wach. Im Einzelflaschenverkauf sind jene Käufer erfasst, die mit einer oder mehreren Flaschen pro Einkaufsakt ihren alltägigen Bedarf decken. Ungeachtet dessen steht die Halbliter-Kiste in der Gunst der Thüringer – und das deutlich über Bundesdurchschnitt – weit vorn. 2021 wurden 69,5 Prozent aller Halbliter-Flaschen im 20er-Kasten eingekauft. Die Halbliter-Flasche erreicht einen marktdominierenden Anteil von 83 Prozent. Allenfalls die Sachsen sind in ihren Einkaufsgewohnheiten ähnlich traditionell und gebindetreu.
Mit einem Dosenanteil von gerade mal 3,6 Prozent und einem verschwindend geringen Drittelliter-Kasten-Anteil von 0,9 Prozent haben diese beiden Segmente allenfalls sortimentsergänzende Bedeutung. Folgerichtig ist der thüringische Biermarkt heute mehr denn je einer hohen Wettbewerbsintensität unterworfen, da die unterschiedlichen Vertriebsschienen des Handels den bevorzugten Halbliter-Kasten allwöchentlich in die Preisoptik rücken. Lediglich die Hard-Discounter haben bei der Bierversorgung ihres Landes eine deutlich unterrepräsentierte Bedeutung. Aldi und Lidl folgen ihrem nationalen Vermarktungskonzept und liegen mit der PET-Flasche sowie der Einwegdosenvermarktung keineswegs auf Linie der Verbraucherwünsche, die den Mehrweggebinden einen absoluten Vorrang einräumen.
Jüngster Ausstoßverlust durch Pandemie
Es ist vor allen Dingen den Investitionen in den großen Standorten von Gotha und Köstritz zu verdanken, dass in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre und noch über die Jahrtausendwende hinaus der Ausstoß der Thüringer Brauwirtschaft kontinuierlich wuchs. Zwischen 2005 und 2010 konnten alle Braustätten ihren Ausstoß bei 3,7 Millionen Hektolitern und damit auf dem höchsten Niveau nach der Wiedervereinigung halten. Damit hatte sich die Menge seit 1995 nahezu verdoppelt. Der Hauptgrund dafür lag in der Rückkehr der Verbraucher zu ihren ostdeutschen Marken, die im Handel für einen soliden Angebotsmix aus Ost- und Westmarken sorgte. Dass der Ausstoß 2021 auf 2,95 Millionen Hektoliter (2020: 3,1 Millionen) absackte, ist ausnahmslos der Pandemie geschuldet. Grundsätzlich ist der Thüringer Biermarkt intakt! Die Zahl der Braustätten entwickelte sich zwischen 1995 und 2020 von 45 auf 47 – zwischenzeitlich hatte sie sich 2013 auf 33 Brauorte minimiert. Die kleineren Anbieter, die in den letzten Jahren hinzukamen, stabilisierten damit auf kleinem Mengenniveau die Biervielfalt im Land.
Heute führen die soliden Marken aus den neuen und den alten Bundesländern mit ihrer angestammten Pils-und Halbliter-Kompetenz gleichermaßen das Abverkaufs-Ranking in den Getränkeplatzierungen des Handels an. Ur-Krostitzer schafft es mit 6,6 Prozent Marktanteil an die Spitze, gefolgt von den Premium-Marken Veltins und Krombacher. Erst danach platzieren sich der Lokalmatador Köstritzer mit einem Marktanteil von 5,3 Prozent sowie die preisaggressive Kampfmarke Hasseröder von AB Inbev mit 5,0 Prozent. Tatsächlich schafft es der mit Ostmarken gut gefüllte Vertriebskoffer der Radeberger Gruppe ebenso wie im benachbarten Sachsen auf einen respektablen Marktanteil von über 15 Prozent. Die Brauwirtschaft Thüringens wird in Zukunft mangels profilierter Marken im nationalen Markenranking wohl weiterhin eine untergeordnete Rolle spielen. Der Bierliebhaber wird es verschmerzen. Zwischen Nordhausen und Sonneberg ist die Sorten- und Markenvielfalt garantiert. In der Halbliter-Flasche versteht sich.
In den Zahlen sind alkoholfreie Biere und Malztrunk sowie das aus Ländern außerhalb der Europäischen Union eingeführte Bier nicht enthalten.
Teil 10
Rheinland-Pfalz und Saarland – Im Weinland: Nach dem Schoppen ein Bier
Kennen Sie unsere andere große Bierserie?
In unserer „Bier-Marken-Analyse 2020“ nehmen wir die Top-Biermarken in Deutschland und deren Entwicklung genauer unter die Lupe.