NRW als Innovationsbringer der deutschen Brauwirtschaft
Der Mengenverlust im nordrhein-westfälischen Biermarkt ist eklatant: Innerhalb der letzten 25 Jahre sank der Bierausstoß der Brauereien im bevölkerungsreichsten Bundesland um 11,23 Millionen Hektoliter, ein Volumenverlust von 35,6 Prozent. Dabei bleibt Nordrhein-Westfalen mit einer anderswo nicht erreichten Bevölkerungsdichte der Schmelztiegel der nationalen Brauwirtschaft. Nicht in Berlin, sondern zwischen Rhein, Ruhr und Weser werden mengenrelevante Trends gesetzt und damit über den Markterfolg von Marken und Unternehmen entschieden.
Der nordrhein-westfälische Biermarkt hat eine prosperierende Nachkriegsgeschichte hinter sich. Der Aufstieg im deutschen Wirtschaftswunder der Nachkriegsjahrzehnte, als hunderte Kneipen und tausende Zapfhähne im ganzen Land das gesellschaftliche Leben der fünfziger und sechziger Jahre prägten, war für die Brauereien im Dreistromland NRW furios. Seitdem das Wachstum zur Mitte der siebziger Jahre gebremst wurde, machten sich die strukturellen Verwerfungen bemerkbar.
In Dortmund, wo noch 1972 mit 6.000 Beschäftigen in der Brauwirtschaft immerhin 7,5 Millionen Hektoliter gebraut wurden, ist heute von der einstigen Blüte Europas größter Bierstadt nur noch Oetkers DAB-Brauerei und ein schmuckes Brauereimuseum übriggeblieben. Es erinnert an jene Jahre, die wirklich jeden Brauer, aber auch manchen Getränkefachgroßhändler in Wehmut verfallen lassen. Damals gehörte der Gerstensaft zum nordrhein-westfälischen Dreiklang von Kohle, Stahl und Bier dazu. Der Strukturwandel in NRW und das veränderte Konsumverhalten haben den Markt seit den achtziger Jahren regelrecht umgekrempelt. Mehr noch: Die allerorts beherrschende Sorte Export wurde vom Wunsch nach dem herben, schlanken Pils abgelöst.
Die Dortmunder hatten einfach zu spät auf diese Entwicklung reagiert und sich Markt und Macht wegnehmen lassen. Marken wie König, Warsteiner oder Veltins wurden mit ihrer Gastronomiekompetenz und vor allem mit Markenpflege zu Hektoliter-Millionären und verwiesen die Dortmunder Brauer in ihre Schranken.
Dortmund: von 7,5 auf 2 Millionen Hektoliter
Die einst stolze Dortmunder Union Brauerei (DUB), die viele Jahre lang durch immer neue Aufkäufe und letztlich auch durch den Zusammenschluss mit der Berliner Schultheiss Brauerei zu mächtiger Konzerngröße gekommen war, ging in den Turbulenzen der Marktveränderungen unter. Als die DUB in den Brau und Brunnen-Konzern überführt worden war, sollte die größte Strukturkrise der Brauwirtschaft nach der Wiedervereinigung letztlich das Aus bedeuten. Durch die Einführung des Einwegpfandes im Jahr 2002 ging nichts mehr – Brau und Brunnen wurde zum überschaubaren Preis von Oetker übernommen und letztlich unter dem Dach der verbliebenen Dortmunder Actien-Brauerei (DAB) filetiert.
Die Standorte von DAB und Brinkshoff’s in Lütgendortmund wurden aufgegeben und an der Steigerstraße auf dem Gelände der einstigen Hansa-Brauerei zusammengeführt. Heute dürften in der Reviermetropole gerade mal 2 Millionen Hektoliter Bierausstoß übriggeblieben sein – verteilt auf viele Alt-Marken versteht sich. Am Substanzverlust der Bierstadt Dortmund konnte auch die Neugründung der Bergmann Brauerei nichts ändern, deren Inhaber als Quereinsteiger die traditionsreiche Marke revitalisiert und ihr mit einem neuen Standort am Phönix-See ein Stück Heimatgefühl zurückgegeben hat. Einen Mengenimpuls sollte es allerdings nicht bedeuten.
Bierausstoß: 2021 erstmals unter 20 Millionen Hektoliter?
Tatsächlich wuchs die Zahl der Braustätten in Nordrhein-Westfalen zwischen 1995 und 2019 von 107 auf 162 Standorte an. Der Wachstumsschub des letzten Jahrzehnts entstand vor allem durch kleinere Neugründungen und einige Craftbier-Pioniere, die dem Markt wie vielerorts in Deutschland zwar wohltuendes Bierimage, aber kaum Mengenimpulse brachten. Die bittere Erkenntnis: Die 11,23 Millionen Hektoliter, die in 25 Jahren verloren gegangen sind, kommen nicht wieder zurück. 2021 dürfte das erste Ausstoßjahr der nordrhein-westfälischen Brauereien werden, in dem die Menge an gebrautem Bier unter 20 Millionen Hektoliter sinkt.
Doch es gibt auch Erfolgsgeschichten, denn in Wirklichkeit hat sich der Schwerpunkt der Brauwirtschaft nach Südwestfalen verlagert. Im Sauer- und Siegerland wird mit den großen national distribuierten Pils-Marken Krombacher, Veltins und Warsteiner – allesamt familiengeführte Privatbrauereien – heute mit 10,5 Millionen Hektoliter so viel Bier gebraut wie in keiner anderen Region Nordrhein-Westfalens. Hinzu kommt, dass mit einem zusätzlichen Volumen von rund 700.000 Hektoliter alkoholfreiem Bier und Biermischgetränken auch dieses wachsende Segment im erheblichen Umfang von NRW-Brauern mitgestaltet wird.
Nach dem Fusionshunger kam die Ernüchterung
Der Strukturwandel und die ausgesprochene Markenorientierung der Verbraucher hat in der Zwischenzeit an vielen Standorten zu zuweilen dramatischen Mengenverlusten geführt. Allein die Herforder Brauerei, die in Hochzeiten 1,1 Millionen Hektoliter braute, ist mit einem geschätzten Ausstoßvolumen von rund 300.000 Hektoliter nur noch ein Schatten ihrer selbst.
Nicht viel anders sieht es am Niederrhein aus, wo die einst stolze Diebels Brauerei als vormals unangetasteter Marktführer im Altbiersegment in die Knie gezwungen wurde. Nicht einmal mehr 200.000 Hektoliter dürften dort heute noch vom „freundlichen Diebels“ gebraut werden. Herforder und Diebels teilen das gleiche Schicksal, das hellhörig machen sollte: Sie wurden von ihren Familiengesellschaftern verkauft und unter fortan schmerzhaften Marktanteilsverlusten in größere Gruppen integriert.
Der Grund für die Schwäche war wie vielerorts hausgemacht, aber genauso strukturbedingt. Nach den Übernahmen schlugen zu viele Markenherzen in der Brust der verantwortlichen Vertriebler, sodass die Einbußen letztlich vor allem auf das Konto der übernommenen Marken gingen. Zugleich waren es die auf diese Weise geschwächten Brauereien, die damit ungewollt ihren Anteil an der Marktkonsolidierung beitrugen. Zu guter Letzt blieben ungenutzt Braukapazitäten.
Die Warsteiner Brauerei konnte dem Standort in Herford ebenso wenig Impulse geben wie die Bremer Deutschland Zentrale von AB Inbev ihrem Issumer Appendix Diebels. Schlimmer noch. Beide Marken standen mit ihren Braustandorten und einer stolzen Zahl von Mitarbeitern erst 2018/19 zum Verkauf und fanden letztendlich keine Käufer mehr. Die Betrachtung führt augenfällig zum Wurzel allen Übels: Immer noch sind zu große Braukapazitäten in Nordrhein-Westfalen vorhanden, sodass es schlichtweg keine Begehrlichkeit nach Sudkesseln und Lagertanks gibt. Ganz zu schweigen von den zumeist vernachlässigten Marken, die kaum Wachstum versprechen. Es gibt nur noch zwei Alternativen: Entweder durchhalten oder aufgeben.
Wegbereiter im Premium-Segment
Selbst der in sich geschlossene, mit keiner Region vergleichbare Kölsch-Markt zeigt Erosionstendenzen. Oetkers Radeberger Gruppe gibt den angestammten, längst technisch in die Jahre gekommenen Standort zu Jahresende 2021 auf und lässt seine Marken (Sion, Sesters, Küppers, Peters, Gilden, Dom) bei der Früh Brauerei herstellen. Gut zu wissen, dass die Kölner unverändert auf ihr Kölsch schwören, aber verständlicherweise in der Causa Radeberger leise die Frage nach der künftigen Differenzierbarkeit im Geschmack stellen.
In der Geschichte des nordrhein-westfälischen Biermarktes ist es ein ungeschriebenes Gesetz, dass Bier aus gleichen Kesseln stets am eigenständigen Profil eingebüßt hat – zumindest in der Imagedimension. Zu einer guten Marke gehört im Bewusstsein der Biertrinker eben auch ein eigenes Sudhaus, die Fremdabfüllung läuft unterhalb des Wahrnehmungsradars.
Große Marktführer wie die König Brauerei aus Duisburg-Beeck oder die Warsteiner Brauerei aus dem Sauerland führten lange Jahre als stärkste Hektoliter-Millionäre das Markenranking deutschlandweit an. Doch der Verlust der Pole-Position aus Image- und Vertriebsgründen führte bei beiden unweigerlich zur Performanceeinbußen – der Biermarkt verzeiht keine Fehler. Dr. Leo König und Albert Cramer galten viele Jahrzehnte als große Lichtgestalten. Ihnen war es nebeneinander gelungen, in der Brauwirtschaft das Premium-Segment zu etablieren – der Duisburger mit seinem „König“, der Sauerländer mit seiner „Königin unter den Bieren“. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Wettbewerb, so viel wurde in den achtziger Jahren deutlich, spielte sich immer mehr in der Kommunikation ab. Viele Brauer Deutschlands blickten lange Zeit mit Ehrfurcht nach NRW und wagten mit mehr oder minder großem Erfolg eine Aufholjagd ums Premium-Image.
Feinen Markenpersönlichkeiten gehört die Zukunft
Einmal den Anschluss an die Marktentwicklung verloren, konnten beide Unternehmen nicht wieder an historische Erfolge anknüpfen. So war es Warsteiner 1995 noch gelungen, als erste Biermarke die 6-Millionen-Hektoliter-Marke zu überschreiten – und das vornehmlich mit Pils. Danach ging es bergab. Krombacher wurde sozusagen zum Auffangbecken jener Verwender, die dem barocken Goldimage abschworen und letztlich vom gelben zum schwarzen Kasten wechselten. Kein Wunder also, dass 2019 im Siegerland ebenfalls 6 Millionen Hektoliter gebraut werden konnten. Freilich längst nicht mehr allein mit Pils, sondern mit einem mengenrelevanten Sortenspektrum von Alkoholfrei über Radler bis hin zum Weizenbier.
Doch die Dachmarkenkonzeption bekommt langsam Risse, weil der Verbraucher mit seinem Hang zu mehr Regionalität und Differenzierbarkeit Newcomer unter den mächtigen TV-Markendach nicht mehr einfach so akzeptiert. Die kleine Marke ist der Feind der großen, mag man meinen. Denn vielmehr sind es Marken-Neuschöpfungen wie Grevensteiner Landbier, die in ihren populär gewordenen Sortensegmenten punkten können. Sie dürfen gern aus traditionellem Haus kommen, müssen aber eine andere, eben glaubwürdige Geschichte erzählen. Veltins fährt gut mit dieser trendgerechten Strategie, weil sie begehrliche Markenpersönlichkeiten schafft.
Veränderungsbereitschaft zur Jahrtausendwende unübersehbar
Dass Veränderungsbereitschaft in der nordrhein-westfälischen Brauwirtschaft notwendig wurde, hatte sich schon zu Beginn des Jahrtausends abgezeichnet, als das größte Bundesland zum Vorreiter neuer Biermix-Kreationen wurde. Nicht etwa mit Radler, das in Deutschland erst seit Mitte der neunziger als Premix von Brauereien abgefüllt und verkauft werden durfte, sondern innovative Geschmacksrichtungen sollten helfen und plötzlich die nachwachsende Zielgruppe begeistern.
Kaum zu glauben, dass es die heute längst an Selbstständigkeit verlorene Frankenheim-Brauerei aus Düsseldorf/Neuss war, die Ende der neunziger Jahre mit Frankenheim Blue zur Bierrevolte einer ganzen Generation aufrief. Plötzlich waren es die jungen Verwender gewesen, die den süßen Altbier-Cola-Mix nachfragten. 2002 standen immerhin 220.000 Hektoliter Frankenheim Blue in der Erfolgsbilanz der Privatbrauerei, die allerdings bereits mit den hohen Investitionen in neue Kästen und Flaschen an die finanzielle Belastbarkeitsgrenze gestoßen war. Zu allem Übel musste Frankenheim Blue mangels eigener Anlagen auch noch kostspielig per Fremdabfüllung bereitgestellt werden.
Derweil hatten sich die Wettbewerber schon längst warmgelaufen und die Traditionsdiskussion um den Mix mit Bier in den eigenen Häusern erfolgreich geführt. So folgte Dimix aus Issum, ehe 2001 Krombacher mit Cab und Veltins mit V+ folgten. Der Erfolg der großen, professionell aufgebauten Markenmixer ist bekannt – Cab ist nach Abenteuern mit Energy oder Lemon längst Geschichte. Allein V+ sollte sich dauerhaft halten. Warsteiner erhielt die Quittung des Verbrauchers dafür, dass man schlichtweg den richtigen Zeitpunkt verpasst hatte, um vom Mengenwachstum einen gewichtigen Teil abzubekommen. Wer zu spät kommt, bestraft das Leben!
Wer zu früh kommt, allerdings auch. Das musste schließlich auch der Warsteiner-Vertriebspartner Frankenheim erfahren, der urplötzlich von der Biermix-Markteinführung seines treuen Weggefährten Warsteiner überrascht wurde. Letztlich blieb Peter Frankenheim nur noch der Verkauf an Albert Cramer übrig.
Marken wie Kelts und Torrik ohne Zukunftschancen
Die nordrhein-westfälischen Brauer waren eben noch in den neunziger Jahren allzu sehr in der Tradition verhaftet. Während Clausthaler Alkoholfrei seinerzeit als Synonym für ein neues Segment stand, das anfangs vornehmlich Autofahrerdurst löschen sollte, wollte die Dortmunder Kronen-Brauerei erst gar keine Irritationen aufkommen lassen und schuf mit „Torrik“ eine Fantasiemarke. Dieser Name suggerierte nichts Bieriges und ließ schon mal keinen Durst aufkommen.
Brauerei-Erbin Doris König hatte in jener Zeit versucht, mit alkoholfreiem Kelts eine Marken-Neuschöpfung zum Erfolg zu führen. Starker Mediadruck sollte seinerzeit keine Verwechslung mit ihrem „Köpi“ aufkommen lassen – die heute längst verflogenen Berührungsängste mit neuen Sorten waren vor der Jahrtausendwende allenthalben spürbar. Nach der Übernahme durch die Bitburger Gruppe wurde dann 2006 erst ein alkoholfreies König eingeführt, dann das Markenexperiment Kelts kurzerhand ad acta gelegt. Schon vorher hatte man in Dortmund das gescheiterte Torrik-Konzept begraben.
Hohe Floprate von Neuheiten nach der Jahrtausendwende
Um an das rasante Wachstum von Neuheiten und Biermischgetränken nach der Jahrtausendwende doch noch anknüpfen zu können, hatte sich die Warsteiner Brauerei die Sub-Brand „Warsteiner Hi-Light“ ausgedacht. Mit einem Paukenschlag präsentierte die Brauerei auf der Internorga 2004 die neue Produktrange, die sich „an den Ansprüchen einer gesundheitsbewussten und körperbetonten Zielgruppe“ orientieren wollte. Vollmundig sprach man von einem „völlig neues Segment im deutschen Biermarkt“, das eine Marktlücke unkonventionell und trendig besetzen sollte – mit vollem Alkoholgehalt, aber 30 Prozent weniger Kalorien.
Hinzu kamen ein „HighLight Lemon“ und ein „HighLight“ Cola“. Warsteiner nutzte nach eigenen Angaben von damals erstmalig eine neue Brautechnologie, um den ursprünglichen Kaloriengehalt zu reduzieren. Doch die Erkenntnis hatte sich bei Brauerei und Verbrauchern schnell durchgesetzt: Der Geschmack war nicht marktfähig. Die Produktrange wurde zum Flop und eingestellt. Bei den Warsteiner Brauern sollte sich einfach kein Erfolg einstellen. Entweder passte der Geschmack nicht oder die vertriebliche Kraft stellte sich nicht ein. Der Bionade-Nachahmer Aloha, aber auch der Biermix „Warsteiner Chily“ waren nur kurz erhältlich.
Ähnlich ging es den Siegerländer Brauern mit „Krombacher Mild“. Als eines der zahlreichen Me-Toos von Beck’s Gold wussten die Verbraucher weder Geschmack noch Produktnutzen einzuordnen. Heute spricht niemand mehr darüber. Das Learning im nordrhein-westfälischen Biermarkt war einige Jahre nach der Jahrtausendwende endlich überwunden. Man wusste, was geht und nicht geht. Zwar waren auch die regionalen Brauer den großen Wettbewerbern Krombacher, Veltins und Warsteiner einige Zeit mit Plagiaten gefolgt, doch es setzte sich in den zurückliegenden Jahren die belastbare Erkenntnis durch, dass es bei einer erfolgreichen Produkteinführung eben nicht mit einem Bier mit neuem Etikett allein getan ist. Die Marktverankerung – und das ist die eigentliche Erkenntnis – sollte zum Maß aller Dinge werden.
Struktur solider Anbieter bedeutet landesweite Regionalität
Das Rheinland, das Ballungszentrum im Revier, aber auch die Regionen Süd- und Ostwestfalen sowie das Münsterland haben sich erfreulicherweise ihre lokalen und regionalen Brauereien erhalten können. Unabhängig von den großen Trends und Entwicklungen im nordrhein-westfälischen Biermarkt dürfen sich die Verwender immer noch über eine solide Struktur regionaler Anbieter freuen, allesamt mit erfreulicher Familientradition.
In Ostwestfalen hält Barre-Bräu aus Lübbecke ebenso wie die Damen der Strate Brauerei aus Detmold die Flaggen der privaten Brauer hoch. Man kämpft in den eigenen Landkreisen um Markentreue und Nähe zum Bierfreund. Auch in Bochum und Essen, wo Fiege und Stauder quasi an der Stadtgrenze ihr limitiertes Marktpotenzial erkennen müssen, weiß man um die Bedeutung der lokalen Marken. Sie alle versuchen den Sortentrends schneller als je zuvor zu folgen, um dem Markenfreund gerecht zu werden.
Und selbst im kölschtreuen Biermarkt der Rheinmetropole versucht man sich heute mit Produktinnovationen, die Menge und Reputation gleichermaßen versprechen. So war es Gaffel gelungen, mit der wiederbelebten Fassbrause im letzten Jahrzehnt die Herzen und Geschmacksnerven der rheinischen Frohnaturen zu erobern – Krombacher, Veltins und viele weitere folgten. Unlängst kam das Gaffel Wiess hinzu, die Früh-Brauerei hatte bereits zuvor mit Schreckenskammer ein Ur-Kölner Histörchen zur Storyline ihrer hochpreisigen Marke gemacht. Und dennoch: Während es den Kölsch-Bauern gelungen ist, ihre Bastion durch ein Heimatgefühl weitgehend abzuschotten, suchte der Altbiermarkt vergeblich nach lokaler Identität.
Heute erlebt man die Düsseldorfer Traditionssorte vornehmlich in den Brauhäusern der Altstadt. Kaum einer weiß, dass es Ende der sechziger Jahre Hannen Alt war, die innerhalb von wenigen Jahren über die Hektoliter-Million sprangen und bis weit in die achtziger Jahre hinein den Altbier-Trend mitgestalteten. In jenem Sudhaus braut heute Oettinger sein Bier für das Preiseinstiegssegment, das NRW-weit gemeinsam mit Paderborner Pils aus der Warsteiner Gruppe dominiert wird.
Pils bleibt dominante Sorte, Hell gilt als Nische
Die nordrhein-westfälischen Bierfreunde sind sich allen Veränderungen zum Trotz treu geblieben. Heute kaufen sie 54 Prozent ihres Bieres im Handel als Pils ein, 9,6 Prozent wandert als Kölsch in die Kühlschränke und auf Platz 3 liegt alkoholfreies Bier mit 7,1 Prozent. Radler und weitere Biermixe bringen es auf 6,8 prozent. Und vom einst sortenführenden Export sind gerade mal 3,7 Prozent Marktanteil übriggeblieben.
Der nordrhein-westfälische Biermarkt beweist eben Wandlungsfähigkeit, aber er folgt nicht jedem Trend. So finden geschmacksschwere Craftbiere unterhalb der Wahrnehmung statt – der Marktanteil in NRW liegt im Handel unter 0,5 Prozent. Das gerade im Süden der Republik seit einigen Jahren favorisierte Hell mit blau-weißer Bayern-Aura bringt es im bevölkerungsstärksten Bundesland gerade mal auf einen Marktanteil von 2,3 Prozent – überraschend wenig.
Bei den Gebinden schwören die Verbraucher unverändert auf ihren angestammten Halbliter-Kasten, der einen Marktanteil von fast 50 Prozent besitzt. Der 24-er 0,33 l-Kasten kommt auf immerhin noch 13,6 Prozent, während die Dose ihren Marktanteil in den letzten Jahren auf 7,6 Prozent steigern konnte. Alles andere verteilt sich vornehmlich auf den Einzelflaschen- oder Six-Pack-Verkauf sowie auf einen PET-Rest.
Fazit: Im Wettbewerb siegten Geschick und Weitsicht
Es bleibt dabei: Weil Mengendynamik eine wesentliche Rolle spielt, herrscht in der Bauwirtschaft unverändert das wirtschaftliche Risiko. Von den Top-10-Brauereien in NRW, die noch vor 25 Jahren eigenständig waren, wurden inzwischen sieben verkauft, einige davon geschlossen. Wer wird der nächste sein?
Dass den einstigen Marktführern König und Warsteiner inzwischen mehr als die Hälfte der Ausstoßmenge verloren gegangen ist, mag bedauerlich sein. Letztlich sind es aber die Management-Entscheidungen der Wettbewerber gewesen, die einfach mehr Geschick und Weitsicht walten ließen. Marken wie Krombacher und Veltins – zugleich das Marktführer-Duo im NRW-Handel – sind heute hingegen Taktgeber im nationalen Biermarkt. Ihnen gelingt es immer wieder, dem Biermarkt attraktive Impulse zu geben.
Der Markt bleibt in Bewegung, der Profiteur bleibt der Verbraucher: Er findet heute in 20-Kilometer-Abständen quer durch NRW ein immer wieder anders ausgesteuertes Bierangebot vor – natürlich mit den heimischen Marktgrößen, aber auch vielen regionalen Markenpersönlichkeiten. Schon deshalb wird NRW ein Bierland bleiben.
In sämtlichen Zahlen sind alkoholfreie Biere und Malztrunk sowie das aus Ländern außerhalb der Europäischen Union eingeführte Bier nicht enthalten.
Teil 7
Wenig Bier auf großer Fläche in Mecklenburg-Vorpommern
Kennen Sie unsere andere große Bierserie? In unserer „Bier-Marken-Analyse 2020“ nehmen wir die Top-Biermarken in Deutschland und deren Entwicklung genauer unter die Lupe.
Die Bier-Marken-Analyse finden Sie hier.
Das Buch zum Biermarkt NRW im Wirtschaftswunder:
Das Buch zum Thema:
Frisch gezapft! Bier-Kultur in Nordrhein-Westfalen
Wer in Deutschland über Bier spricht, kommt an Nordrhein-Westfalen nicht vorbei. Es ist das Land der Biere und seit den 1950er Jahren Stammsitz vieler Familien-Brauereien, aber auch mächtiger Hektoliter-Millionäre, die große Biermarken geschaffen und die Brauwirtschaft vorangetrieben haben. Gesellige Eckkneipenkultur, bodenständige Büdchengeschäfte und nachbarschaftlicher Hausverkauf haben das Land in den Wirtschaftswunderjahren geprägt und den Dreiklang von Kohle, Stahl und Bier unvergessen gemacht. Dabei hat sich das Dreistromland den traditionellen Sortenreichtum von Pils, Kölsch, Alt und Export bewahren können und immer neue Spezialitäten hervorgebracht. Der Band dokumentiert die wechselvolle Geschichte der Bier-Kultur zwischen Rhein, Ruhr und Weser.
Klartext-Verlag, Essen: 160 Seiten/Festeinband
Illustration: zahlr. farb. Abb.
Autor: Ulrich Biene
ISBN: 978-3-8375-2365-2
Preis: 29,95 €