Im Nordosten haben die Dänen das Sagen
In Mecklenburg-Vorpommern verstehen sich die Menschen auf Zurückhaltung. Dabei braucht die Brauwirtschaft des Landes ihr Licht nicht unter den Scheffel zu stellen – klein, aber oho. Immerhin um 33 Prozent ist das Gesamtvolumen des Biermarktes in den letzten 25 Jahren gewachsen. Die Hälfte des Ausstoßes von rund 3 Millionen Hektolitern wird von dänischen Brauern kontrolliert.
Gastronomie und Hotellerie von Anfang an begehrt
Wenngleich nach Bremen und dem Saarland das nördliche Mecklenburg-Vorpommern mit nur 1,61 Millionen Menschen zwar eine überschaubare Konsumentenzahl aufzubieten hat, so ist die Landesfläche doch enorm. Hinzu kommt die touristische Dimension, die das landwirtschaftlich geprägte Bundesland als Urlaubsziel mit der Ostseeküste und den bekannten Inseln Rügen und Usedom nach dem Fall der deutsch-deutschen Grenze 1989 so beliebt machte. Dabei haben Brauereien im Land durchaus eine Erfolgsgeschichte hinter sich. In den Nachwendejahren drängten die großen Wettbewerber an die Ostseeküsten, genau dorthin, wo sich die Gastronomie mit erheblichen Investitionen in die Infrastruktur neu ausrichtete und positionierte.
Die West-Marken lockten in der neuen Marktwirtschaft mit attraktiven Finanzierungen und nahmen den heimischen Brauereien schnell, vielleicht allzu vorschnell, den Markt aus der Hand. Denn viele der Existenzgründungen sollten die West-Brauereien reichlich Lehrgeld zahlen lassen; viele Insolvenzen führten in den Buchhaltungen Hunderte Kilometer entfernt zu schmerzhaften Wertberichtigungen. Wohl dem, der das Abenteuer Ost gleich nach der Wende mit Bedacht angegangen hatte. Denn erst zur Mitte der neunziger Jahre entspannte sich die Situation. Gastronomie und Hotellerie hatten aufgerüstet und sich endlich für eine lange, erfreuliche Zukunft fit gemacht.
Einher ging der Aufbau Ost mit Infrastrukturmitteln in die Erschließung der Verkehrswege wie das Großprojekt der A20. Und was geschah mit den traditionsreichen Brauereistandorten in Mecklenburg-Vorpommern? Sie kamen allesamt unter westdeutsche und dänische Fittiche. Gerade mal vier tapfere Platzhirsche wehren sich seither mit Erfolg gegen die Eindringlinge aus den anderen Bundesländern.
Vier große Brauer und ein kleiner auf Rügen
1995 führte die mecklenburgische Brauerei Lübz mit gerade mal 730.000 Hektolitern das Standortranking an, gefolgt von der Rostocker Brauerei mit 500.000 Hektolitern und der Darguner Klosterbrauerei mit 330.000 Hektolitern. Die Nordbräu Neubrandenburg, einst zum führenden DDR-Getränkekombinat Neubrandenburg gehörend, erreichte 1995 gerade mal 150.000 Hektoliter Ausstoß, der private Investor stellte im Jahr darauf den Betrieb vollständig ein.
Kaum zu glauben, dass die Störtebeker Brauerei in Stralsund mit ihrem Ausstoß von 10.000 Hektolitern beim Start in die Marktwirtschaft kaum wahrnehmbare Kraft entfaltete. Und dennoch sollten die Stralsunder eine furiose Aufholjagd hinlegen. Tatsächlich gelang es den vier Brauereien in Dargun, Rostock, Lübz und Stralsund ihren Markt zu sichern und für gesundes Wachstum zu sorgen. Mit einem Ausstoß von 2,98 Millionen Hektolitern in 2020 steht Mecklenburg-Vorpommern unter allen Bundesländern immerhin auf Platz neun, noch vor Hessen und Sachsen-Anhalt. Der Zuwachs von über 700.000 Hektolitern in den Sudkesseln des nördlichen Bundeslandes innerhalb von 25 Jahren ist allein in der Kontinuität der Gesellschafter und der konsistenten Marktpolitik begründet.
Bier braucht Ruhe, gerade im traditionsreichen Mecklenburg-Vorpommern, gerade dort, wo Urlauber die Gelassenheit suchen. Zwischen Wismar und Binz sowie zwischen Binz und Ludwigslust zählt Pils mit einem Marktanteil von 66 Prozent im Handel zum Sortenfavoriten, immerhin knapp 8 Prozent der Verbraucher verlangen noch nach dem aus DDR-Zeiten populären Export-Bier. Alkoholfrei und Radler liegen mit 4,5 und 4 Prozent nahezu gleichauf. Und die anderen Sorten wie Weißbier oder Helles? Kaum wahrnehmbar, allenfalls ein Urlauberphänomen.
Die Bierfreunde in Mecklenburg-Vorpommern wählen ihre Gebinde wie zu DDR-Zeiten. Immerhin über 75 Prozent aller Biere geht in der Halbliter-Flasche über den Ladentresen. Der Einzelflaschenverkauf liegt dabei mit über 17 Prozent überraschend hoch. Aber so wurde seinerzeit in den Kaufhallen eingekauft, gelebte Konsumtradition eben. Dabei steht Lübzer mit einem Marktanteil von 15 Prozent vor den Ost-Marken Hasseröder mit 13,9 Prozent und Radeberger mit 7,2 Prozent. Erst danach folgen Krombacher, Beck’s und schließlich das Heimatbier Rostocker, das es gerade auf die Hälfte des Marktanteils der Oetker-Vorzeigemarke Radeberger bringt.
Ein Newcomer in der Brauwirtschaft Mecklenburg-Vorpommerns spielt da lieber in der bescheidenen Liga der Spezialitätenbiere. Denn 2015 ging unweit der Rügenbrücke die Inselbrauerei in Rambin ans Netz. Der einstige Geschäftsführer der Stralsunder Brauerei, Markus Berberich, hatte mit den Niederländern Andries und Frans de Groen Investoren gefunden, die nach dem Verkauf ihrer Grolsch-Brauerei an SAB Miller ein Craftbier-Abenteuer wagen wollten.
Darguner Bier fürs Preiseinstiegssegment
Mit 4.331 Einwohnern hat sich das kleine Dargun unweit der Mecklenburgischen Seenplatte zum größten Brauort des Landes entwickelt. Kaum zu glauben, dass dort deutlich über eine Million Hektoliter gebraut werden. Hinzu kommen noch alkoholfreie Getränke. Alles entstand 1991 auf der grünen Wiese, als die Darguner Brauerei als Tochtergesellschaft der dänischen Harboes Bryggeri A/S, gegründet 1883, den norddeutschen Biermarkt für sich entdeckte.
1972 war Bernhard Griese in die damals noch kleine dänische Brauerei seines Schwiegervaters eingestiegen und hatte das Unternehmen in seinem Heimatland deutlich wachsen lassen. Gleich nach dem Mauerfall baute Bernhard Griese die Darguner Brauerei in Mecklenburg-Vorpommern auf. In den ersten drei Jahren musste das Bier noch mit Tanklastzügen nach Deutschland gefahren werden, erinnerte sich Bernd Griese vor einigen Jahren an den Start in Mecklenburg-Vorpommern.
Die technische Aufrüstung der Brauerei begann im Startjahr 1991, als eine Dosenabfüllanlage in Betrieb genommen wurde. 1992 folgten das Sudhaus, der Gär- und Lagerkeller mit der Hefereinzuchtanlage sowie Filtration und Wasseraufbereitung für einen Jahresabsatz von ca. 350.000 Hektolitern Bier. In den Jahren 1996/97 erhöhte das Unternehmen seine Braukapazität auf rund 700.000 Hektoliter. Der Standort war längst fernab der dänischen Mutter autark unterwegs, beschäftigt heute rund 300 Mitarbeiter. Gleich nach der Einführung des Einwegpfandes 2003 setzte die Darguner Brauerei als eine der ersten Unternehmen in Deutschland auf Bier in PET-Flaschen. Gleichzeitig wurde die Erweiterung des Sudhauses in Angriff genommen und das Lager ausgebaut.
Mit diesem Projekt sollte die Kapazität im Sudhaus 2005 mehr als verdoppelt werden. Dass es 2021 Ärger mit der Gewerkschaft NGG gab, blieb angesichts zahlreicher Schlagzeilen niemandem im Land verborgen. Letztlich wurde der Vorschlag eines „Darguner Wegs“ akzeptiert, der zwar keinen von der NGG geforderten Anschluss an den Tarifvertrag bedeutet, aber den Mitarbeitern in der strukturschwachen Region Arbeitsplatzsicherheit bietet. Letztlich musste Søren Malling, Vorstands-Chef der Harboes Bryggeri und damit der Mutter der Darguner Brauerei, einräumen, dass seine Brauerei die gesamte Produktpalette hauptsächlich an Lebensmittelketten und Discounter liefere und angesichts der Preiseinstiegspositionierung mit sehr niedrigen Margen kalkulieren müsse.
Während die Preise für die Produkte in den vergangenen Jahren stabil geblieben seien, hätten die Kosten für Rohstoffe und Mitarbeiter zugelegt – keine Luft für Tarifgehälter, wollte Malling damit sagen. Damit geriet die Darguner Brauerei in jene Zwickmühle, die das Preiseinstiegssegment zwangsläufig bedeutet. Stier-Bier, die Hausmarke des ebenfalls dänischen Discounters Netto, gibt’s in Mecklenburg-Vorpommern regelmäßig für 8,- Euro, zwei Halbliter-Mehrwegkästen mit 20 Flaschen versteht sich. Erst unlängst wurde von der Darguner Brauerei angekündigt, neue Vertriebswege zu erschließen – angesichts der Preisstellung können sich Oettinger, Paderborner und das Frankfurter Brauhaus der TCB also auf einen harten Wettbewerber einstellen.
Die Dänen haben auch in Lübz das Sagen
Die Mecklenburgische Brauerei in Lübz agiert heute unter dem Hamburger Holsten-Dach ebenfalls unter dänischer Führung, diesmal der dänischen Carlsberg-Gruppe. Lübzer ist es nach der Übernahme durch Holsten schon 1991 gelungen, zielstrebig in einen zeitgemäßen Markenauftritt und ein blitzsauberes regionales Image zu investieren. Das Pils mit dem Leuchtturm im Markenzeichen steht für ungezwungene Lebensart – mal gelassen, mal forsch. Manchen Markenfreund im eher traditionsreichen, zuweilen konservativen Mecklenburg-Vorpommern verwundert es dann schon, wenn er in der Werbung urplötzlich ein nacktes Pärchen übermütig in einen See springen sieht. Aber genau diese Berechenbarkeit mit kleinen Überraschungen haben dem differenzierenden Markenauftritts gutgetan.
Hinzu kommt, dass es für die Carlsberg-Gruppe schon in den neunziger Jahren keine Markenalternative für die Gastronomie gab, um an der ostdeutschen Küste die touristische Region für sich zu erschließen. Gleichwohl kann sich Lübzer schon lange über eine veritable Akzeptanz überall in den neuen Bundesländern freuen. Markterleichternd kommt hinzu, dass die Carlsberg-Gruppe unlängst die Wernesgrüner Brauerei übernommen hat und nunmehr das Pils aus eigenem Haus auch in Sachsen abfüllen lassen kann. Damit sorgt Lübzer einmal mehr für Stabilität innerhalb der Distribution.
Oetker in Rostock am Ruder
Ein ähnliches Schicksal sollte die Rostocker Brauerei gleich nach der Wende ereilen – zwei Hafenstädte fanden 1991 kurzerhand zusammen. So hatte gleich nach der Wende die Beck‘s Brauerei die schützende Hand über die Rostocker Brauerei gelegt und das Unternehmen aus den Fängen der Treuhand befreit. So wurden innerhalb weniger Monate die ersten 20 Millionen D-Mark investiert, die gleiche Summe sollte folgen.
Mit einer neuen Keg-Abfüllanlage ging die Rostocker Brauerei schon ein Jahr nach der Wiedervereinigung an den Start, ein Jahr später folgte eine neue Flaschenabfüllung. Das Unternehmen ist in der Hansestadt denkbar fest verwurzelt, denn vor 143 Jahren übernahmen Georg Mahn und Friedrich Ohlerich diesen Braustandort, der es zu DDR-Zeiten zum Hektoliter-Millionär bringen sollte. Diese Kapazität konnte während der sozialistischen Ära nur deshalb erreicht werden, weil nach einem spektakulären Großbrand von 1967 die komplett zerstörten Anlagen vollständig neu wiederaufgebaut werden mussten, zu DDR-Zeiten ein Glücksfall.
1991 zeigte man sich in Rostock zuversichtlich, alsbald auf die 500.000-Hektoliter-Schwelle zusteuern zu können. Doch die Kontinuität sollte nach einem guten Wachstumsjahrzehnt enden. Während sich Beck‘s nach der Übernahme durch Interbrew 2003 vom Rostocker Standort trennte, sprang die expansionshungrige Brau & Brunnen AG in die Bresche, um endlich neben Jever und Bavaria St. Pauli im Norden der alten Bundesländer auch eine Dependance im Norden der neuen Bundesländer ins Portfolio zu holen. Der Zerfall der Dortmunder Gruppe führte die Rostocker Brauerei dann ungewollt, aber geradewegs in die Arme des Oetker-Konzerns. Von dort wird das Unternehmen auch heute noch geführt, freilich mit einem ausgeprägt regionalen Anspruch.
Die Rostocker Biere kommen 100 Kilometer weiter keinem der Wettbewerber mehr in die Quere. Stattdessen setzt Oetkers weiterer Oststandort auf lokale Identität. Das gelingt mit dem Launch eines mild gehopften Bieres, das nach den Gründern Mahn & Ohlerich benannt ist. Mit rund 330.000 Hektolitern hat die Rostocker Brauerei an Marktkraft der neunziger Jahre verloren und steht heute auf der Eroberungsliste der Störtebeker Braumanufaktur in Stralsund, die es 2020 immerhin auf 290.000 Hektoliter schaffte.
Mainstream für den Ausstoß
In Stralsund haben es die Nordmann-Brüder aus dem Westen richtig gemacht, wenngleich man vermuten darf, dass ihr heute sichtbarer Erfolg von Störtebeker alles andere als vorhersehbar war. Mit einem neuen Standort am Rande von Stralsund hielt die Brauerei Schritt mit der Entwicklung des regionalen Marktes, um mit dem Rückenwind der Aura einer Braumanufaktur ihre Spezialitäten im Markt zu verankern. Das eine zu tun, ohne das andere zu lassen – so lautet das Motto der Stralsunder. Denn während sie das benötigte Ausstoßvolumen über die Mainstream-Sorten in ihre Sudkessel holen, schaffen sie werthaltiges Image über Spezialitäten.
Dass dabei kein Vertriebskanal für ihr Störtebeker zu schade ist, machen die Stralsunder deutschlandweit immer wieder deutlich, wenn es um Listungen im Discount geht. Die Preisstellung ist auch in diesem Vertriebskanal hoch, weil die Spezialitäten es hergeben. Durchaus zweistellige Wachstumsraten bedeuten für die Inhaberfamilie alljährlich mächtige Investitionen, die mit einem wachsenden Ausstoß belohnt werden müssen. Hoffentlich lange genug.
Fazit: Biervielfalt hilft allen
Die Verbraucher in Mecklenburg-Vorpommern können sich heute glücklich schätzen, dass sie auf eine verlässliche Markenwelt ihrer Brauwirtschaft setzen können. Wenngleich die Hälfte des Volumens von zwei dänischen Brauereien kontrolliert wird, so ändert das nichts an der regionalen Verankerung der vier wichtigen Standorte und der Neugründung in Rabin. Dass das Zusammenspiel mit einem funktionierenden Tourismus an der Ostseeküste und auf den Inseln für Markenerlebnisse sorgt, kann dem Image nur helfen. Mecklenburg-Vorpommern ist auf einem guten Weg.
In sämtlichen Zahlen sind alkoholfreie Biere und Malztrunk sowie das aus Ländern außerhalb der Europäischen Union eingeführte Bier nicht enthalten.
Teil 8
Bayern – das Stammland des Bieres mit strukturellen Verwerfungen
Kennen Sie unsere andere große Bierserie?
In unserer „Bier-Marken-Analyse 2020“ nehmen wir die Top-Biermarken in Deutschland und deren Entwicklung genauer unter die Lupe.
Die Bier-Marken-Analyse finden Sie hier.
Wismarer Ausstellung zur Brauerei-Historie:
Es fließt in Strömen:
Industrielles Brauen in MV
Das Bierbrauen selbst ist eine uralte Kulturtechnik, die in Mecklenburg bereits vor der deutschen Kolonisation im zwölften Jahrhundert praktiziert wurde. Mit einer neuen Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes im Jahr 1869 wurde das Industriezeitalter im Bierbrauen eingeläutet.
Die Ausstellung im phanTechnikum in Wismar zeigt die Entwicklung des industriellen Brauens in Mecklenburg und Vorpommern anhand der über viele Jahre größten und bedeutendsten Brauerei im Lande: der Brauerei Mahn & Ohlerich in Rostock. Ausgestellt sind technische Geräte, eine Pumpe und ein Bierfilter, welche beispielhaft für die frühere Ausstattung kleinerer Brauereien stehen. Anhand von Fässern aus verschiedenen Jahrzehnten wird die Entwicklung des Biertransports verdeutlicht. Zudem liegen Proben der Grundstoffe Gerste, Malz und Hopfen bereit. Historische Bierflaschen, Filme und Werbung dokumentieren die frühere Vielfalt der Brauereien in MV.
Die Sonderausstellung ist bis zum 27. März 2022 im phanTechnikum in Wismar zu sehen.